Freitag, 9. Juli 2010

Erdogan und die deutsche Integrationsdebatte

Oder, wenn Karagöz im Kaspertheater auftritt

August 2008/ Der türkische Premierministerpräsident Recep Tayyip Erdogan hatte während einer Großveranstaltung im Kölner Fußballstadion verlauten lassen, "Assimilation" sei "ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit" und damit auch eine Debatte ausgelöst, die ein wenig an deutsch-türkisches Volkstheater erinnert.

Denn zu Zeiten der Osmanen war es kein geringerer als die ungehobelte Schattentheaterfigur Karagöz, die während des Ramadanfestes – des islamischen Fastenmonats – das einfache Volk belustigte. Wie sein europäischer Pendant Kasperle war Karagöz eine einfältige, aber ehrliche Haut. Noch heute wird in der Türkei die Tradition des Schattentheaters weiter gepflegt.
Wer in den Genuss gekommen ist, sowohl Karagöz und seine Kumpanen als auch das Kaspertheater erlebt zu haben, wird sicherlich mit einem Lächeln im Gesicht an diese schöne Kindheitserinnerung denken. Doch wer dachte, es wäre ein doppelter Genuss, wenn Karagöz auf Kasperle trifft, wurde bitter enttäuscht. So geschehen während und nach dem Besuch des türkischen Regierungschefs Erdogan in Deutschland. Sein Auftritt und die oscarreif inszenierte Aufregung der politischen Klasse hierzulande wurden zu einem deutsch-türkischen Karagöz-Kasperle-Theater übelster Art.

Ein Jeder kehre vor der eignen Haustüre

Erdogans Kölner Auftritt offenbarte auf krasse Weise die Geisteshaltung der Herrschenden in den beiden Ländern zu der Situation der türkeistämmigen MigrantInnen. Mit seiner "Assimilationsthese" regte der türkische Premier die deutschen Gemüter auf. Erdogan habe "dem deutsch-türkischen Verhältnis und dem Zusammenleben schweren Schaden zugefügt" und "das Gegenteil von Integration, also Abgrenzung und Abkapselung gefordert" hieß es übereinstimmend aus unterschiedlichen politischen Lagern. Eine einzige Aussage reichte aus, um den "Hühnerstall" durcheinander zu wirbeln.

Festzustellen gilt zuerst: Erdogan ist unglaubwürdig. Wer mit Anwendung von militärischer Gewalt die seit Jahrzehnten währende reaktionäre Turkisiierungspolitik gegenüber der kurdischen Bevölkerung ohne wenn und aber fortführt; wer nationalistisch-chauvinistische Stimmung bewusst schürt, die eigene Gesellschaft in "Laizisten" und "Antilaizisten" spaltet und mit einer auf Assimilierung zielenden Politik versucht, Alewiten und Andersgläubige unter dem Diktat des sunnitischen Religionsverständnisses zu zwingen, hat das Recht verwirkt, die – zu Recht als Defizitär zu bezeichnende – Politik eines anderen Landes zu kritisieren.

Der neoliberale Konvertit Erdogan steht mit seiner Regierung in der Kontinuität des militaristischen Vormundschaftsregimes. Seit eh und je werden die türkeistämmigen MigrantInnen als Devisenbeschaffer und willige "Lobbyisten des Vaterlandes" behandelt. Als solche und als Konsumenten vaterländischer Produkte sollen sie auf ewig "Türken" und "Muslime" bleiben – auch wenn sie in Deutschland geboren und eingebürgert sind. Als eine manövrierbare Masse, über die je nach Bedarf frei verfügt werden kann.

Insofern sind die kritischen Äußerungen des türkischen Premiers über die "Integrationspolitik" in Deutschland noch nicht mal das Papier wert, auf dem sie geschrieben stehen. Dennoch – wo er Recht hat, hat er Recht!

Dass MigrantInnen bei jedem Hausbrand aufschrecken und dahinter eine rassistische Tat vermuten, kommt nicht von ungefähr. Es ist nun mal eine Tatsache, dass in einem der "zivilisiertesten" und reichsten Länder der Erde jedes Jahr tausende rassistische Gewalttaten ausgeübt werden. In Anbetracht der institutionalisierten Diskriminierungsmechanismen, des in der gesellschaftlichen Mitte verankerten Rassismus und der Existenz zahlreicher "ausländerfreier Zonen" ist es gut nachvollziehbar, wenn MigrantInnen Angst haben.

Assimiliere sich wer's kann…

Auch wenn die so genannte Integrationsdebatte nicht mehr die Aufmerksamkeit der Medien erregt, wird sie auf verschiedenen Ebenen fortgeführt. Über Erdogan kann man sicherlich noch weiter streiten. Das sollte aber nicht vergessen machen, dass diese Debatte für die politische Klasse in Deutschland ein Armutszeugnis war.

Wer die unterschiedlichen "Debattenbeiträge" verantwortlicher PolitikerInnen "zwischen den Zeilen lesen" konnte, wird den Eindruck nicht los, dass unsere PolitikerInnen keine Ahnung haben, wovon sie sprechen.

Ein besonderes Beispiel dafür hat die Bundeskanzlerin abgegeben. Zur Forderung Erdogans nach türkischsprachigen Schulen und Universitäten in Deutschland sagte Frau Merkel, dass sie Vorbehalte habe "wenn türkische Lehrer jetzt nach Deutschland kommen, um die hier lebenden türkischstämmigen jungen Leute zu unterrichten". Könnte es sein, dass die Bundeskanzlerin nicht in Kenntnis gesetzt wurde, dass seit Jahrzehnten vom türkischen Staat ausgesuchte LehrerInnen nach Deutschland geschickt werden, um in deutschen Schulen – bezahlt von den jeweiligen Kultusministerien der Länder – türkeistämmige SchülerInnen zu unterrichten? (Erst kürzlich war in einer türkischen Tageszeitung zu lesen, dass türkische Lehrer in Anwesenheit des türkischen Generalkonsuls einen Fahneneid "für den Schutz des türkischen Nationalismus" geleistet haben.)

Oder dass die so genannten Schüler des islamistischen Imams Fetullah Gülen in Deutschland inzwischen einige türkische Privatgymnasien unterhalten und dafür auch noch Fördermittel kassieren? Vielleicht ist es der Bundeskanzlerin entgangen, dass in Hunderten DITIB (Türkisch-Islamische Union der Anstalt für Religion e.V.)-Moscheen in Deutschland türkische Imame, die vom türkischen Staat besoldet werden, ihren Diensten nachgehen. Oder hat sie die Berichte des Bundesverfassungsschutzes nie zu Gesicht bekommen?

Nehmen wir an, es wäre so. Aber sicher hat die Bundeskanzlerin von der ihr direkt unterstellten Bundesintegrationsbeauftragten Frau Böhmer oder dem Bundesinnenminister erfahren, welche Personen und Organisationen an den "Islam-" bzw. "Integrationsgipfeln" teilnehmen. Dass beispielsweise offen antisemitisch, nationalistisch und fundamentalistisch eingestufte Organisationen im Islamrat bzw. Zentralrat der Muslime in Deutschland vertreten werden oder die türkische DITIB dem Nationalen Sicherheitsrat der Türkei unterstellt ist und dessen Imame faktisch wie Beamte des türkischen Geheimdienstes MIT arbeiten. Keine Ahnung?

In einer Regierung, die Tendenzen eines Sicherheitswahns zu Tage legt, wäre es sehr unwahrscheinlich, dass die Kanzlerin von alledem nichts wüsste. Als einzig logische Erklärung bleibt übrig, dass die Bundeskanzlerin und ihre KollegInnen Scheinheilig sind und die Debatte nutzen wollen, um ihre verfehlte Politik zu verdecken.

Was in dieser Debatte jedoch nicht verdeckt werden konnte, ist das herrschende Paradigma zur "Integration von MigrantInnen". Unter "Integration" wird in Deutschland Anpassung und "Assimilierung" verstanden. Weder das eine, noch das andere aber ist für die Lösung der migrationspolitischen Herausforderungen geeignet.

Ohne einen Paradigmenwechsel können die Probleme nicht gelöst werden. Notwendig ist aber vorher eine Verständigung über Begrifflichkeiten[1]. Beginnen wir mit dem Begriff "Assimilation". Laut Duden bedeutet er "Ähnlichmachung, Angleichung, Anpassung an bestehende Verhältnisse. (…) (soziol.) Angleichung eines Einzelnen od. einer Gruppe an die Eigenart einer anderen Gruppe, eines anderen Volkes." Verstanden wird darunter ein gezieltes Aufzwingen der Eigenschaften und Einstellungen der Mehrheitsgesellschaft, also Unterordnung unter die Dominanzkultur und Aufgabe der eigenen sozialen wie kulturellen Eigenschaften.

Unabhängig davon, ob das als "Verbrechen gegen die Menschlichkeit" bezeichnet werden kann oder nicht, ist es aufgrund der Erscheinungsformen der Migration im 21. Jahrhundert und der Entwicklung der modernen Nationalstaaten nicht möglich, eine größere gesellschaftliche Gruppe – mit oder ohne Zwang – zu assimilieren. Im Zeitalter der globalisierten Finanzmärkte sind die nationalen Schmelztiegel längst erloschen.[2]

"Integration" hingegen beschreibt der Duden als: "1. [Wieder]herstellung einer Einheit [aus Differenziertem], Vervollständigung (…) 3. (soziol.) Verbindung einer Vielheit von einzelnen Personen od. Gruppen zu einer gesellschaftlichen u. kulturellen Einheit." Das bedingt einen positiv gesteuerten, lang anhaltenden und differenzierten Prozess des Zusammenführens und Zusammenwachsens. Also ein Prozess der Annäherung, Anerkennung, Interaktion und Kommunikation, gegenseitige Auseinandersetzung, Nichtdiskriminierung, gleichberechtigter Zugang zu sozialen, kulturellen, wirtschaftlichen und rechtlichen Ressourcen und nicht zuletzt die Entwicklung einer neuen Gemeinschaftskultur.

Beide Begriffsdefinitionen zeigen, was die Politik der bisherigen Bundesregierungen und die herrschende Meinung in Sachen "Integration der MigrantInnen" in Wahrheit bedeuten: Auf Assimilation zielende "Integrationspolitik". Ein Herrschaftsinstrument, mit dessen Hilfe die, für den neoliberalen Umbau unverzichtbare gesellschaftliche Spaltung gefördert wird. So wird auch deutlich, welch reaktionäre Geisteshaltung hinter der gespielten Aufgeregtheit der letzten Wochen stecken.

Fest steht: Die Migrationsprozesse unserer Zeit stellen die bürgerlichen Gesellschaften in den kapitalistischen Zentren vor ungeheure Herausforderungen. Für unsere Zukunft bergen diese Herausforderungen Risiken – aber auch ungeahnte Chancen. Wer dies erkennt, muss sich für eine demokratisch-partizipative – und deshalb zukunftsträchtige – Integrationspolitik einsetzen. Für eine Integrationspolitik, die Migration als ein zentrales Element der sozialen Frage begreift und unzertrennbar mit Sozialstaatlichkeit, Demokratisierung und Friedenssicherung verbunden ist.

Erst wenn dies weitgehend umgesetzt ist, wird es ein wahrer Genuss sein, Karagöz und Kasperle auf der gleichen Bühne zu erleben.

[1] Siehe u.a. auch: wikipedia.org.
[2] Siehe auch: Murat Çakir, "MigrantInnen: Rettung oder Todesstoß für die europäischen Demokratien?", in: Supplement der Zeitschrift Sozialismus 2/2008