Freitag, 9. Juli 2010

Handlanger des Neoliberalismus in islamischen Gewändern

Über die ökonomischen und sozialen Hintergründe der Krise des politischen Systems in der Türkei

Juli 2008/
Es war sicherlich voraussehbar, dass das Europäische Parlament am 21. Mai 2008 den äußerst kritischen Fortschrittsbericht über die Türkei mit einer überwältigenden Mehrheit annehmen würde. Die Erlahmung des »Reformeifers« türkischer Machthaber, aber insbesondere die aktuelle Krise des politischen Systems hätte eine andere Akzentuierung wahrlich nicht möglich gemacht.

Trotz berechtigter Kritik des Europäischen Parlaments muss aber konstatiert werden: der Berg kreiste und gebar eine Maus! Alle Beteiligten sind sich bewusst, dass kritische Berichte, gar die Androhung zur Aussetzung einzelner Verhandlungskapiteln im »Heranführungsprozess der Türkei in die EU« keinen großen Eindruck auf die Entscheidungsträger in der Türkei machen können. Es kann durchaus davon ausgegangen werden, dass eine EU-Mitgliedschaft der Türkei erst nach Jahrzehnten denkbar ist – wenn überhaupt!

Vorerst scheinen sich die türkischen wie europäischen Entscheidungsträger mit der Situation abgefunden zu haben. Beiderseitig begnügt man sich mit wirtschaftlichen »Reformen«. Appelle zur Umsetzung von demokratischen Maßnahmen, Einhaltung der Menschenrechte und von Grundsätzen der Rechtsstaatlichkeit sowie die Forderungen nach einer »dauerhaften Lösung der Kurdenfrage« sind nicht mehr als Pflichtübungen, die im realen politischen Leben keinerlei Wirkungen haben.

Zudem ist längst keine Binsenweisheit mehr, dass die EU mit Doppelmoral handelt. Während das Verbotsverfahren gegen die Regierungspartei AKP in der EU »Zweifel an der Unabhängigkeit und der Objektivität des Justizsystems des Landes« aufkommen lässt, [1] wird ein »mögliches Verbot der Partei der demokratischen Gesellschaft (DTP)« nur »als Kontraproduktiv für eine politische Lösung« [2] betrachtet. Ansonsten erschöpft sich der Fortschrittsbericht in Allgemeinplätzen zur »Lösung der Kurdenfrage«, in »Bedauern« über das brutale Vorgehen der Sicherheitskräfte gegen Demonstranten und in der »Solidarität mit der Türkei bei der Bekämpfung des Terrorismus«. Es wäre sicherlich lohnenswert über die Doppelmoral der EU in Sachen Türkei und Kurdenfrage weitere Ausführungen zu machen. Doch es würde den Rahmen dieses Artikels sprengen. Vielleicht wäre in einem der nächsten Sozialismus-Artikeln dafür Platz.

Parteienverbote: Charakteristikum der türkischen »Demokratie«

Die staatlich verordnete Moderne gleicht einer nimmer enden wollenden Jacobinerdiktatur türkischer Art. Seit Gründung der Republik – eigentlich seit dem Jungtürkenputsch von 1908 gegen den osmanischen Sultan – ist das militärische Vormundschaftsregime eine Konstante der »modernen« Türkei. Diese Konstante bestimmt im Wesentlichen die türkische »Demokratie« und das politische System.

Parteienverbote sind wiederum ein Charakteristikum dieser »Demokratie«. Mehr noch: sie können auch zu Todesstrafen führen. Sogar Ministerpräsidenten und Minister wurden erhängt – durch Urteile ordentlicher (!) Militärgerichte. Die jüngste Geschichte der Türkei gleicht einem Parteienfriedhof. Bis heute wurden zahlreiche Parteien verboten. Ein besonderer Merkmal der verbotenen Parteien war und ist, dass sie entweder »antilaizistische« oder »prokurdische« Positionen vertraten.

So ist es auch kein Zufall, wenn im 85. Jahr der Republikgründung gegen die regierende AKP und die oppositionelle DTP Verbotsverfahren eröffnet werden. Solange die, 1982 von der Militärjunta diktierte Verfassung gültig ist, solange wird dieses unsägliche Spiel weitergehen.

Mehr noch: die Entscheidung des Verfassungsgerichts zum Verbot des Kopftuchs Anfang Juni 2008 machte deutlich, dass das militärische Vormundschaftsregime inzwischen sich noch nicht mal an die eigens diktierte Verfassung hält. Die Entscheidung des Verfassungsgerichts, eine vom Parlament mit einer absoluten Mehrheit beschlossene Verfassungsänderung für nichtig zu erklären, wird in der Türkei strömungsübergreifend als ein »juristischer Putsch« bewertet.

Für die AKP-Regierung bedeutet diese Entscheidung nichts anderes als eine Geiselhaft. Ab sofort wird jedes Vorgehen der Regierung oder des Parlaments gegen diese Entscheidung eine militärische Intervention legitimieren. Damit ist die AKP-Strategie, mit zaghaften Schritten das System zu verändern, kläglich gescheitert.

Die Züchtigung der AKP

Der Kolumnist der linken Zeitung »Alternatif«, Veysi Sarisözen, sieht die AKP am Ende. Laut Sarisözen ist es jetzt unwichtig geworden, ob die AKP verboten wird oder nicht. Denn trotz ihrer verfassungsändernden Mehrheit wäre die AKP in Sachen »Demokratisierung« nicht mehr Handlungsfähig, weshalb das Verbotsverfahren obsolet sei. Andere wiederum vertreten die Auffassung, dass sich die AKP bald spalten werde.

Das ist ein wahrscheinliches Szenario, zumal die Anzeichen dafür schon jetzt sichtbar sind. Die AKP ist kein monolithischer Block, sondern eher als ein Bündnis unterschiedlicher Kräfte zu bezeichnen, in der jedoch die islamistisch-konservativen Strömungen die Mehrheit stellen. Diese Mehrheit hat es nicht vermocht, die bei den vorgezogenen Wahlen am 22. Juli 2007 aus der »Opferrolle« herausgeholte breite Unterstützung für einen Demokratisierungsweg zu nutzen. Im Gegenteil: mit der Parlamentsmehrheit im Rücken wurden laizistische Ängste der Bevölkerung verschärft und die gesellschaftliche Spaltung weiter vertieft.

Zudem wird die AKP Opfer ihres eigenen »Erfolgs«. Standen die »anatolischen Tiger«, die als »grünes Kapital« (Grün für Islam) bezeichneten antilaizistischen Unternehmer und die neue Mittelschicht noch bis vor kurzem hinter der AKP-Regierung, kann heute kaum noch von einer uneingeschränkten Unterstützung aus diesem Bereich gesprochen werden. Die starke Kapitalakkumulation, neue Kapitalverwertungsmöglichkeiten durch sie begünstigende Privatisierungen und die verbesserte Konkurrenzsituation gegenüber der traditionellen türkischen Großbourgeoisie haben die »anatolischen Tiger« in die Modernisierungsfalle gebracht und zwingen sie zum Pragmatismus. Die Möglichkeit, zu den Trägern einer imperialen Regionalmacht gehören zu können, ließ sie umdenken: das »grüne Kapital« hat inzwischen mehr zu verlieren, als nur das »Kopftuch« oder andere religiöse Traditionen.

Aber auch die Liberalen und bürgerliche Kräfte hinterfragen inzwischen ihre Unterstützung für die AKP. Kritisiert werden die »Reformunfähigkeit« der AKP-Regierung und die »Stagnation auf dem Weg in die EU«. Kommentatoren von wirtschaftsliberalen Medien sprechen davon, dass die AKP und die islamistisch-konservative Strömung von dem »Regime« Schritt für Schritt »gezüchtigt« werden. Die Hoffnungen von Liberalen, Teilen der bürgerlichen Kräfte und der kurdischen Bourgeoisie, mit der AKP in Europa anzukommen, verflüchtigen sich – langsam, aber stetig.

Und ein weiterer, wichtiger Teil der AKP-Wählerschaft dreht ihr den Rücken: Konnte die AKP vor den vorgezogenen Parlamentswahlen noch in die »Opferrolle« schlüpfen und somit auch die Sympathie der unteren Schichten gewinnen, hat sie dies mit ihrer rigorosen antidemokratischen Haltung und ihrer durch und durch antisozialer Wirtschaftspolitik gänzlich verspielt. Gerade die unteren und mittleren Einkommensgruppen sowie Teile der kurdischen Bevölkerung erwarteten durch die Versprechungen der AKP und ihrer »wehrhaften« Haltung gegen die militärischen Machthaber, eine Umverteilungspolitik und weitergehende Demokratisierungsschritte. Doch binnen weniger Monate mündeten diese Erwartungen in einer bitteren Enttäuschung.

AKP-Wirtschaftspolitik: Neoliberalismus in Reinkultur

Vor den Turbulenzen auf den Weltmärkten stünde die Türkei »wie ein Fels in der Brandung«, so Premier Erdogan vor einigen Wochen. Doch das ist mehr Schein als Sein. Der Rückgang der Nachfrage nach türkischen Exportartikeln, der erhöhte Rückfluss des spekulativen ausländischen Kapitals, mögliche Rückforderungen von Auslandskrediten und die Aussetzung erhoffter ausländischer Investitionen machen die bevorstehende schwierige Zeit für die brüchige türkische Wirtschaft auch für Wirtschaftslaien deutlich.

In der Tat; der seit 2002 andauernde Wachstumsprozess ist in Stocken geraten. Die Schwächen des scheinbar unaufhaltsamen türkischen Wirtschaftswachstums werden deutlich. Ausländische Kapitalflüsse, die von der AKP – Regierung und den Unternehmensverbänden hoch gelobt wurden, haben vorhandene Wachstumspotentiale nicht fördern können. Der aufgrund des Rückgangs der Nachfrage im Inland entstandene Einbruch konnte mit dem Export nicht aufgefangen werden. Von der Regierung mit erleichterten Konsumentenkrediten und weitverbreiteten Kreditkartennutzung künstlich geförderter Konsumboom ist wie ein Kartenhaus in sich eingestürzt. Die Zeichen einer chronischen Stagnation der Binnenkonjunktur sind mehr als sichtbar.

Laut einer Untersuchung des Ökonomen Mustafa Sönmez [3] hat sich das Leistungsbilanzdefizit der Türkei aufgrund des wachsenden Außenhandelsdefizits Ende 2007 auf 38 Milliarden US-Dollar [4] hochgeschraubt. Ökonom Sönmez ist der Auffassung, dass der Handel mit der EU dieses Defizit in erster Linie verursacht habe. Zwar habe der Export in die EU-Länder zugenommen, aber dieser Export sei ein Export der Waren der vom Import abhängigen Industriezweige. In diesem Zusammenhang beklagen die Gewerkschaften, dass sich mit dieser, auf Import basierenden Exportindustrie ein unorganisiertes, niedrig belohntes und teilweise informelles Arbeitskraftangebot breit formiere.

Während die Zollunion mit der EU von der AKP-Regierung seit ihrer Machtübernahme vor allem für »Flexibilisierungsmaßnahmen« auf dem Arbeitsmarkt und für Liberalisierung der Wirtschaftspolitik genutzt wurde, hat der niedrig gehaltene Wechselkurs zur Folge, dass der Binnenmarkt seit längerem von Importwaren aus Asien überschwemmt wird. Den niedrigen Wechselkurs hatte die Regierung seiner Zeit mit der »Notwendigkeit, ausländische Investoren ins Land zu locken« begründet. Folge war, dass die inländische Produktion und der Arbeitsmarkt unter einen immensen Druck geraten sind. Binnen weniger Jahren verdoppelte sich dann die Zahl der insolventen Firmen. Doch diejenigen Unternehmen, die der AKP-Regierung nahestehen, konnten dank ihrer – von der Regierung unterstützten – Strategie, den Import und Kreditaufnahme auf der Basis des Wechselkurses YTL / US-Dollar abzuwickeln, aber ihre Exportartikel in Euro zu verkaufen, sich übers Wasser halten. Ob aber diese Strategie weiter fortgeführt werden kann oder wegen fehlender Nachfrage aus dem EU-Raum doch tragisch enden wird, ist noch offen.

Die Erhöhung der Abhängigkeit vom ausländischen Kapital ist ein weiteres Merkmal der AKP-Politik. Die stetig wachsende Auslandsverschuldung, aber auch die rasant wachsende Verschuldung der Privatwirtschaft im Ausland hat das Land unter die Kontrolle der internationalen Finanzmärkte gebracht. Direkte ausländische Kapitalflüsse, Hegemonie in zahlreichen Wirtschaftszweigen und Investitionen in Aktien sowie in hochverzinsliche Staatsanleihen führten dazu, dass die Auslandsverschuldung allein in den ersten 9 Monaten des Jahres 2007 die Rekordmarke von 448 Milliarden US-Dollar (2002: 130,2 Milliarden US-Dollar) erreicht hat.

Die Haushaltspolitik der AKP-Regierung ist ein weiteres Instrument der Umverteilung von Unten nach Oben. Der Anteil der indirekten Steuern aus der Konsumtion lag 2007 bei 66 Prozent. Der Anteil der direkten Steuern jedoch bei 34 Prozent, wobei die Einkommensteuer 23 Prozent ausmachte. Während abhängig Beschäftigte den größten Anteil der Einkommensteuer zu tragen haben, haben Banken und Unternehmen, die wiederum den größten Anteil des Reichtums einstreichen, 2007 gerade mal 9 Prozent der gesamten Steuereinnahmen aufgebracht.

Für die AKP-Regierung sind die Privatisierungen die wichtigsten Einnahmequellen zum stopfen der Haushaltslöcher. Während die in den Haushalt fließenden Verkaufserlöse aus den Privatisierungen 2004 nur 1 Prozent der Staatseinnahmen ausmachten, verdoppelte sich deren Anteil 2005 auf 2 Prozent. 2006 betrug ihr Anteil 4,5 und 2007 4 Prozent. Ein Teil der Privatisierungserlöse wurde vor den Kommunalwahlen an die AKP-Bürgermeister zur freien Verfügung überlassen. Mit einem weiteren Teil dieser Erlöse konnten dann vor den Parlamentswahlen die »Sachspenden an die arme Bevölkerung« [5] finanziert werden.

2007 betrugen die Zinszahlungen aus dem Staatshaushalt rund 49 Milliarden YTL (ca. 24,5 Milliarden Euro), also 24,4 Prozent des Haushaltes. Gehälter und Löhne betrugen rund 19,5 Prozent des Haushaltes. Aufgrund der Privatisierungen im Gesundheitssektor waren Mehrausgaben an Privatunternehmen in Höhe von 6 Milliarden YTL (ca. 3 Milliarden Euro) zu verzeichnen. Der Verteidigungshaushalt verschlang 2007 rund 24 Milliarden YTL (ca. 12. Milliarden Euro), wobei Ausgaben verschiedener armeeeigenen Fonds und Stiftungen darin nicht enthalten sind.

Liberale Kommentatoren schrieben wegen der vermeintlichen Preisstabilität bis vor kurzem Loblieder auf die Wirtschaftspolitik der AKP. Doch die Zahlen sprechen eine andere Sprache: obwohl es durchaus als ein Erfolg zu bezeichnen ist, dass die Preissteigerungsrate nach langen Jahren erstmals auf einstellige Zahlen herabgesenkt wurde, mussten die offiziellen Prognosen immer wieder korrigiert werden. So war es kein Zufall, dass für das Jahr 2007 gesetzte Ziel von 4 Prozent Inflationsrate am Jahresende doch 8,7 Prozent wurde. Hinzu kommt, dass die von dem Statistischen Amt (TÜIK) für die Berechnung der Preissteigerungsrate als Grundlage dienende Waren- und Dienstleistungsliste der Realität nicht ganz entspricht. Verschiedene WissenschaftlerInnen kommen bei ihren Berechnungen auf 90 Waren und Dienstleistungen. Die TÜIK jedoch berücksichtigt nur 30 von dieser Liste. Für diese 30er-Liste stimmt die Rate von 8,7 Prozent. Berücksichtigt man jedoch die übrigen 60 (u. a. Brot und Miete, die über 20 Prozent Teuerungsrate verzeichnen) mit, ist die »wahre« Inflationsrate mit rund 20 Prozent zu beziffern.

Ähnliche Abweichungen sind bei den Arbeitslosenstatistiken festgestellt worden. Laut den von Gewerkschaften veröffentlichten Zahlen, ist die Zahl der Beschäftigten in dem Zeitraum 2002-2006 um 0,7 Prozent gewachsen. In dieser Zeit wurde ein durchschnittliches Wirtschaftswachstum von 7,3 Prozent erreicht. In gleicher Zeit ging aber die Zahl der Beschäftigten in der Landwirtschaft um 1,37 Millionen zurück. Während im November 2006 die Zahl der Beschäftigten mit 21,2 Millionen bekannt gegeben wurde, lag diese Zahl im November 2007 bei rund 20,8 Millionen – trotz eines Wachstums von 4 Prozent.

Zwischen der TÜIK und den WissenschaftlerInnen wird seit Jahren über den Begriff, wer dem arbeitsfähigen Teil der Bevölkerung angehört, heftig gestritten. Laut TÜIK liegt die offizielle Zahl des arbeitsfähigen Bevölkerungsteils bei 25,3 Millionen. Die offizielle Zahl der Arbeitslosen, bei 4,4 Millionen. Wenn man jedoch den Schlüssel der unabhängigen WissenschaftlerInnen ansetzt, kommen die Gewerkschaften auf eine Zahl von 5,05 Millionen Arbeitslosen – also einer Arbeitslosenquote von 20 Prozent. Leidtragende dieser Entwicklung sind vor allem Frauen und Jugendliche. In der Gruppe der 15 bis 24-Jährigen liegt die Arbeitslosenquote bei über 22 Prozent. Ferner müssen regionale Unterschiede berücksichtigt werden. Insbesondere kurdische Gebiete sind von der Arbeitslosigkeit überproportional betroffen. So liegt z.B. in der Millionenmetropole Diyarbakir die Arbeitslosenquote bei fast 80 Prozent.

Auch bei den Einkommensunterschieden verursacht die AKP-Politik eine Katastrophe. Während 2007 die Exportwirtschaft dank Niedriglöhne und inhumaner Arbeitsverhältnisse [6] rund 107 Milliarden US-Dollar Umsatz machen konnte [7], lag die Zahl der wegen Überschuldung insolventen Haushalten bei rund 700 Tausend. [8] Auch Beschäftigte des öffentlichen Dienstes sind mehr und mehr von der persönlichen Insolvenz betroffen, da sie aufgrund der Haushaltskonsolidierungspolitik Lohnverluste hinnehmen mussten.

Die sogenannte Haushaltskonsolidierung betraf gleichzeitig viele RentenempfängerInnen. In den letzten Jahren sind durch Inflation und Abbau von Subventionen reelle Verluste bei den Renten deutlich sichtbar geworden. Der Rückgang von Beschäftigungsmöglichkeiten in der Landwirtschaft, Abbau von staatlichen Unterstützungen im Agrarbereich und die gleichzeitigen militärischen Operationen verdoppelten die Binnenmigration und intensivieren somit die Armut in den Städten.

Diese Entwicklung wird mit der rigorosen Rotstiftpolitik im Sozialwesen verschärft. Während die unteren und mittleren Einkommensgruppen rund 70 Prozent der Steuerlast zu tragen haben, werden gerade die Sozialausgaben für diese Gruppen enorm gekürzt. Demgegenüber haben Einkommen aus Gewinnen und Zinsen rund 56 Prozent der gesamten Einkommensarten in 2007 ausgemacht.

Ein weiteres Problem ist die Zunahme der Beschäftigung im informellen Sektor. Laut Gewerkschaftsangaben hat sich die Zahl der nichtversicherten Beschäftigten im Jahr 2007 auf rund 4 Millionen erhöht. Diese Zahl wird, trotz beiläufiger Benennung, kaum in einer regierungsamtlichen Statistik berücksichtigt. Genauso wenig wird die Verschuldung der privaten Haushalte Seitens der Regierung thematisiert. Laut einem Bericht der Bankenaufsicht haben Kreditkarten- und Konsumentendarlehen Ende 2007 ein Volumen von rund 91,3 Milliarden YTL (ca. 45,6 Milliarden Euro) erreicht. Während sich die AKP-Regierung rühmt, mit öffentlichen Mitteln die durch Spekulationsgeschäfte in die Insolvenz getriebenen Privatbanken gerettet zu haben, werden mit Verschärfung der Vollziehungsinstrumente die insolventen Haushalte in den Ruin gestürzt.

Versuche der AKP-Regierung, die Verarmung breiter Bevölkerungsteile mit »Sachspenden« gesetzlichen Mindestlohn oder kostenlosen Versorgung durch »Gesundheitskarten« (»Grüne Karten«) abzumildern, greifen kaum. Auch die arme Bevölkerung hat inzwischen begriffen, dass die »Sachspenden« nur ein Wahlkampfmanöver nach Art einer »Armenspeisung« war. Und der gesetzliche (monatliche) Mindestlohn i. H. v. 436 YTL (ca. 218 Euro) kann Armut kaum verhindern. Denn laut einer Studie der Gewerkschaftskonföderation TÜRK-IS lag 2007 für eine vierköpfige Familie die Hungergrenze bei 720 YTL (ca. 360 Euro) und die absolute Armutsgrenze bei 2.346 YTL (ca. 1.173 Euro) im Monat.

Gerade die Verteilung der »Gesundheitskarten« macht die regionalen Unterschiede, insbesondere die überproportionale Benachteiligung der kurdischen Bevölkerung sichtbar: Laut TÜIK wurden 2008 an 9,4 Millionen Menschen die »Gesundheitskarte« aus Armutsgründen verteilt. 46 Prozent der KartenempfängerInnen leben in den kurdischen Gebieten. In Hakkari, Agri, Van und Bitlis beträgt deren Anteil mehr als 50 Prozent der EinwohnerInnen. Gepaart mit der politischen Unterdrückung und dem auf militärischen Gewalt setzenden Vorgehen des türkischen Staates wird dadurch aus der Kurdenfrage, ein gewaltiger sozialer, politischer und kultureller Sprengstoff.

»It´s another ball game«

Es ist ein offenes Geheimnis, dass die liberale Wirtschaftspolitik und die Annäherung an die EU für die militärischen Machthaber und deren Verbündeten in der Bürokratie ein Dorn im Auge ist. In diesem Zusammenhang spricht Prof. Dr. Eser Karakas von der Istanbuler Bosporus – Universität, von einer »Vormundschaftsökonomie«. [9] Denn gerade die wirtschaftlichen und steuerlichen Privilegien [10] der Militärs und Staatbürokratie würden im Falle eines EU-Beitritts durch unterschiedliche EU-Richtlinien aufgehoben. Daher hätte man mit Hilfe des Verfassungsgerichts den Begriff »Gemeinnutz« in ihrem eigenen Interessensinne besetzt. In der Tat: erst vor kurzem, im März 2008 hat das Verfassungsgericht beschlossen, dass Firmen von ausländischen Eigentümer keine Grundstücke in der Türkei erwerben dürfen. Der »Gemeinnutz« hätte einen höheren Rang.

Im Grunde genommen ist die aktuelle Auseinandersetzung ein Kampf um die absolute Herrschaft. »Kopftuchdebatte« und »Antilaizismusvorwürfe« - so berechtigt sie auch sind - sind Nebenkriegsschauplätze. Wie Karakas es meint: »It´s another ball game« - es geht um das Wohlergehen des Vormundschaftsregimes.

Dabei wird die Sensibilität um den »Laizismus« in erster Linie für die Mobilisierung der »westlichen« Bevölkerungsschichten gegen die AKP benutzt. Wenn es wirklich um den »Laizismus« ginge, müsste vorher gegen die »Saadet Partisi« (Partei des Glücks) von Necmettin Erbakan ein Verbotsverfahren eröffnet werden. Denn sie ist die Nachfolgerin sämtlicher verbotenen islamistischen Parteien.

Dass das Regime längst nicht mehr legale Maßnahmen trifft, war zwar bekannt, wurde aber vor kurzem mit Zeitungsberichten belegt: eine sog. »Arbeitsgruppe Republik« wurde 2002 unter dem Dach des Generalkommandanten der Gendarmerie gebildet. Diese »AG«, die über keinerlei gesetzliche Legitimation verfügt, führt Karteien über sämtliche Personen der Öffentlichkeit in allen Regierungsbezirken. Ein eigens gegründete »NGO« (Bewegung der nationalen Einheit) war einer der Organisatoren der großen »republikanischen Kundgebungen« im letzten Jahr. Die geheime »AG« und die »zivile Organisation« fördern nationalistisch-chauvinistische Stimmung und haben die Aufgabe, »die Streitkräfte zu unterstützen, Finanzquellen für ›Medienarbeit‹ ausfindig zu machen, patriotische Gruppen, die gegebenenfalls in bewaffnete Auseinandersetzungen ziehen sollen, zu gründen, die öffentliche Meinung zu beeinflussen und die ›nationalen Kräfte‹ zentral zu bündeln«. Die Ergebnisse ihrer Tätigkeiten kann man in der heutigen türkischen Gesellschaft tagtäglich sehen: Lynchjustiz, offener Rassismus gegen die kurdische Bevölkerung und Chauvinismus pur.

Ohne Frage, die AKP ist an der aktuellen Krise des politischen Systems mitschuldig. Aber auch einer anderen Partei, die in der Regierung eine ähnliche EU-nahe Politik verfolgt hätte, wäre das gleiche passiert. Obwohl die AKP, opportunistisch wie sie ist, sich gerade in der Kurdenfrage all zu schnell neben die Militärs gestellt, den EU-Mitgliedschaftsprozess bewusst verlangsamt und eine nationalistische Innenpolitik betrieben hat, konnte sie diese Krise nicht abwenden. Problematisch wird es jetzt, wenn die Auswirkungen der Krise der internationalen Märkte mit voller Wucht die Türkei treffen würde. Wirtschaftskrise und Krise des politischen Systems gemeinsam könnten dann den Weg in ein totalitäres Regime ebnen.

Einen kleinen Hoffnungsschimmer gibt es dennoch: die sich gerade bildende und ernstzunehmende politische Opposition. Linke und sozialistische Parteien, Intellektuelle, die prokurdische DTP, demokratische Muslime – Alewiten wie Sunniten –, soziale Bewegungen und die Friedensbewegung, die am 1. Juni 2008 in Istanbul mit einer achtbaren großen Friedensdemonstration Zehntausende für die »demokratische Lösung der Kurdenfrage« auf die Straße geholt hat, sind derzeit dabei, eine vereinigte »Dachpartei« zu gründen. Ein breites Bündnis, welches sich das Ziel gesetzt hat, das militärische Vormundschaftsregime zu überwinden, einen demokratischen und friedlichen Beginn zu schaffen und die soziale Gerechtigkeit herzustellen, könnte eine echte Alternative zum Block der Herrschenden werden. Die Kommunalwahlen im März 2009 werden die erste ernste Prüfung sein.

Ob aber dazu kommen wird, steht noch nicht fest. Denn die Krise hat das politische System der Türkei derart instabil gemacht, dass alle Karten neugemischt werden müssten. Feststeht aber eins: die AKP hat den Demokratisierungsbemühungen einen großen Bärendienst erwiesen. Jetzt kriegt sie die Quittung dafür – AKP war gestern.

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[1] Vgl.: Entschließung des Europäischen Parlaments vom 21. Mai 2008 zu dem Fortschrittsbericht 2007 über die Türkei (2007/2269[INI])
[2] Ebenda.
[3] Mustafa Sönmez: »2008 Dünya Krizi ve Türkiye« (Weltkrise 2008 und die Türkei), Eine Untersuchung im Auftrag der Gewerkschaft Petrol-Is, Istanbul, März 2008
[4] Für sämtliche Zahlen in diesem Artikel: Vergl. Dazu: www.tuik.gov.tr/Start.do Website des Statistischen Amtes der Türkei (TÜIK); www.petrol-is.org.tr Website der Gewerkschaft Petrol-Is; www.disk.org.tr Website der Gewerkschaftskonföderation DISK oder »Stimmen aus der Türkei« Informationsbulletin des Verbandes Türkischer Industrieller und Unternehmer, www.tusiad.org
[5] Gemeinsam mit den AKP-Bürgermeistern verteilten die AKP-Gliederungen vor den Parlamentswahlen am 22. Juli 2007 vor allem in den Armenvierteln Nahrungsmittelpakete und Kohle. Später wurde durch Zeitungsberichte bekannt, dass deren Finanzierung aus dem Regierungshaushalt getragen wurde. Oppositionsparteien werfen der AKP seit langem »Stimmenkauf durch Nahrungsmittelverteilung« vor.
[6] 2007 und 2008 starben alleine in den Werften 25 Arbeiter durch Arbeitsunfälle. Mehrere Werftbesitzer sind AKP-Abgeordnete.
[7] Nach Angaben der Türkischen Exportvereinigung (TIM) ist das Exportvolumen gegenüber April 2007 39,1 Prozent gestiegen.
[8] Angaben des Statistischen Amtes der Türkei (TÜIK)
[9] Siehe: Tageszeitung TARAF, vom 24. März 2008, www.taraf.com.tr
[10] Siehe auch: Murat Cakir, »Die EU, die Türkei und die Macht der Generäle«, in: Sozialismus Heft 1/2007
Aus: Sozialismus, Heft 7/2008