Freitag, 9. Juli 2010

MigrantInnen: Rettung oder Todesstoß für europäische Demokratien?

Februar 2008/ Die Migration ist für Immanuel Wallerstein »eine sich stets wiederholende Geschichte«. In der Tat: Wanderungsbewegungen sind so alt wie die Menschheitsgeschichte selbst. Gerade im »alten Kontinent«, dessen BewohnerInnen nicht nur die Wanderung der Menschen über die Grenzen, sondern auch die Bewegung der Grenzen über die Menschen (K.J. Bade) mehrfach erlebt haben.

Es ist eine sich wiederholende Geschichte, die allerdings in der Ära des Finanzmarktkapitalismus wesentlich andere Züge trägt, als in den vergangenen Jahrhunderten. Das globalisierte Kapital hat die Welt in eine globale Fabrik umgewandelt, gleichzeitig aber den Strom der Millionen in Richtung seiner Metropole in Bewegung gelenkt. Wie in den 1960er Jahren eilt die billige Ersatzarmee des Arbeitsmarktes auch im 21. Jahrhundert willig gen Westen.

Es sind nicht nur unqualifizierte Billigstkräfte, sondern auch Gutausgebildete und Qualifizierte aus Asien, Afrika, Osteuropa und dem Nahen Osten, die einen immer größer werden Teil der Bevölkerung Westeuropas ausmachen. Gemeinsam mit den Einheimischen bilden sie nun das transnationale Arbeitskräftereservoir für das transnationalisierte Kapital.

Es findet »ein globales Treffen der Klassen« (F. Beskisiz) statt. Doch während die Transnationalität das Kapital zusammenschweißt, fördert sie die Segregation der Arbeiterschaft, somit der bürgerlichen Gesellschaften, immer stärker. Es ist quasi ein Teufelskreis: Die Märkte globalisieren sich immer schneller, der Druck auf Nationalstaaten, »Standorte« und Arbeitsbedingungen wächst. Gleichzeitig findet ein demografischer Wandel statt – die westlichen Gesellschaften überaltern. Der dadurch ausgelöste Kompensationsdruck und die Bedürfnisse der Märkte nach frischen, willigen und »preiswerten« Arbeitskräften führen zum Zuzug weiterer ArbeitsmigrantInnen in die Zentren des Westens. Weltweite Klimakatastrophen, Hungersnöte und Kriege – allesamt Ergebnisse der Schattenseiten der europäischen Moderne – verstärken die globalen Migrationsprozesse. So wird das Netz der globalen Diasporen auch auf dem europäischen Kontinent immer enger geknüpft und so schreitet mit jeder Verknüpfung die Zerrüttung der Fundamente der ehrwürdigen bürgerlichen Gesellschaften Europas voran.

Europa ist heute nicht das Europa der 1960er Jahre und auch die modernen MigrantInnen sind nicht mehr jene WandererInnen aus alten Zeiten.

Die globalisierten Finanzmärkte, unter deren Druck alles Erdenkliche der Kapitalverwertungslogik untergeordnet wird, machen völkerrechtswidrige Kriege, Militarismus, Terror, Unterdrückung, millionenfaches Leid, Massenvertreibungen u.v.a.m. zum Alltag. Als logisches Ergebnis erlebt nun der Westen, dessen Reichtum u. a. auch auf der Armut der übrigen Welt gründet, vor der eigenen Haustür die Konsequenzen des eigenen Handelns.

Gerade in Deutschland hat diese Entwicklung fatale Folgen: Die längst vollzogene Transformation des rheinischen Kapitalismus, die Flexibilisierung der Arbeitsverhältnisse, Erosion sozialstaatlicher Regulationen und die voranschreitende »Proletarisierung« (D. Kücükaydin) immer größerer Bevölkerungsschichten machen die Klassengesellschaft für alle wieder sichtbar. Doch eine mit Schreckensszenarien und Horrorvisionen begründete innere wie äußere »Sicherheitspolitik«, die bewusst geschürte »Terrorhysterie« sowie eine als Gefahrenabwehr verkaufte Migrations- und Flüchtlingspolitik verdecken die Zusammenhänge zwischen der neoliberalen Programmatik der herrschenden Politik, der Militarisierung der Außenpolitik und dem massiven Abbau sozialer wie demokratischer Rechte. Dies wiederum korrespondiert mit einem in der gesellschaftlichen Mitte verankertem Rassismus und verstärkt die Segregationen in der Gesellschaft.

Ohne Frage; die neoliberale Strategie der Verunsicherung und der massive Umbau der sozialen Sicherungssysteme führen zu einer Nivellierung der Unterprivilegierungs- und Konkurrenzbedingungen zwischen den einheimischen und zugewanderten Arbeitskräften - »Hartz IV« ist zu einem weiteren Herrschaftsinstrument des Kapitals geworden. Auch für Einheimische sind Ausbeutung, Armut und Elend für Einheimische keine Fremdbegriffe mehr. Aber institutionelle und gesellschaftliche Diskriminierungsfelder, die Ethnisierung der arbeitsmarktrechtlichen Instrumente sowie die Rechtsunsicherheit, jederzeit den Aufenthaltsstatus verlieren zu können, potenzieren die Unterprivilegierungen der MigrantInnen. Dies und die Tatsache, dass Migration und daraus resultierende Probleme zentrale Elemente der sozialen Frage geworden sind, bergen große Risiken für die Zukunft der bürgerlichen Demokratien Europas. Denn es gibt genügend mahnende Beispiele dafür, dass die europäische Moderne in Barbarei umschlagen kann.

Nicht »entweder – oder«, sondern »sowohl – als auch«!

Die heutigen MigrantInnen haben weder – wie in den vergangenen Jahrhunderten – die Möglichkeit in den eingewanderten Regionen, Gründungssubjekte von Nationen bzw. Nationalstaaten zu sein, noch die Hoffnung, als originäre Bestandteile der »Nation« des Einwanderungslandes akzeptiert zu werden. Vom »fürsorglichen Nanny-State« (M. Horx) in ihren Individualrechten eingeschränkte und durch die Umwälzungen der kapitalistischen Gesellschaften traumatisierte Einheimische versperren den Zugang zum Schmelztiegel Nation für MigrantInnen.

Die MigrantInnen sind nicht mehr wegzudenkende Teile der Gesellschaften der europäischen Nationalstaaten, obwohl sie an deren Gründungsprozessen nicht teilgenommen haben. Aber sowohl die politischen Strukturen, die gesellschaftliche Organisation und rechtliche Fundamente dieser Staaten basieren auf dem Verständnis, dass die jeweilige Gesellschaft nur aus nationaldefinierten StaatsbürgerInnen bestehen. Bürgerrechte werden in weiten Teilen nur den BürgerInnen im Sinne des jeweiligen Staatsangehörigkeitsrechts zugestanden. Nichteingebürgerte sind Fremdkörper und nur nach Anpassung akzeptabel – natürlich bis zu einer gewissen Grenze.

Die gesellschaftliche Realität jedoch hat dieses Gesellschaftsverständnis längst ad absurdum geführt. Sie, die gekommen waren, um einige Jahre zu arbeiten und danach mit dem Ersparten in die »Heimat« zurückzukehren, sind geblieben. Mit mehreren Generationen sesshaft geworden, werden sie wohl nie richtig zurückkehren. Legal oder »illegal«, eingebürgert oder nicht, als wachsende, dynamischste gesellschaftliche Gruppe bilden sie das Paradoxon der westeuropäischen Nationalstaaten. Allein ihre Anwesenheit stellt die bürgerlichen Gesellschaften vor derart komplizierte Herausforderungen, dass sie derer mit den althergebrachten nationalstaatlichen Mitteln kaum Herr werden können.

Daher laufen alle repressiven wie auch z.T. gutgemeinten Integrationsbemühungen – sprich Eingliederung und Anpassung – ins Leere. Die Formel »entweder eingliedern, um teilhaben zu können oder Exklusion« ist nicht nur falsch und für Lösungsansätze ungeeignet, sondern zugleich die legitimatorische Basis eines rassistischen Handelns. Jede politische Strömung, die ernsthaft daran interessiert ist, die aus der Migration herauswachsenden Probleme lösen zu wollen – unabhängig davon ob repressiv oder partizipatorisch -, wird bei dem weiteren Festhalten an dieser Formel scheitern. Gäbe es nur ein paar hunderttausend MigrantInnen, dann wäre die Lösung vielleicht einfach. Aber es handelt sich um Millionen. Alleine in Deutschland gibt es laut Mikrozensus über 15 Millionen Menschen mit Migrationshintergrund.

Erschwerend kommt hinzu, dass MigrantInnen eine komplexe Gruppenstruktur aufweisen. Sie sind zum einen keine homogene Gruppe und haben gruppeninterne Hierarchien. Ganz unten, auf der untersten Stufe der gesellschaftlichen Pyramide, existieren Hierarchien und unterschiedliche »Kastensysteme«, aus denen ein Entrinnen oft unmöglich ist.

Zum anderen haben wir es mit mehrdimensionalen MigrantInnenidentitäten zu tun. Wo auch der/die MigrantIn lebt, ist er/sie aus der Sicht des Herkunftslandes ein/eine Ausgewanderte/r. Aus dem Blickwinkel des Herkunftslandes bedeutet das quasi ein Leben im Mittelstand. In Europa jedoch gehören sie zur klassischen Arbeiterschaft bis hin zur prekären Unterschicht – was aber aus globaler Sicht immer noch weit entfernt ist von den Armuts- und Elendskategorien der Länder der dritten und vierten Welt. Sicher gibt es auch jene, die den Sprung in die Mittelschichten in den eingewanderten Ländern schaffen bzw. geschafft haben. Aber auch deren wirtschaftliche Grundlage basiert i. d. R. auf dem »MigrantInnensektor«. Innerhalb der MigrantInnengruppen fehlen eben »die Großbourgeoise und auch eine breite Schicht überlieferter Bildungsbürgerlichkeit« (F. Walter). Die »SchwarzarbeiterInnen«, Unqualifizierten, Illegalisierten, Flüchtlinge, Asylsuchenden – also jene von normalem aufenthalts- und sozialrechtlichen Schutz ausgeschlossene und von den Gewerkschaften ignorierte Gruppe bildet dann die unterste »Kaste« der MigrantInnenhierarchie.

Welcher Stufe sie auch angehören mögen, von dem Druck eines doppelseitigen Nationalisierungszwangs können sie sich nicht befreien. Sowohl aus dem Herkunfts-, als auch aus dem Einwanderungsland kommt das gleiche Signal: Bleib, was du bist! (O-Ton Süleyman Demirel, ehem. türkischer Staatspräsident: »Werdet Deutsche, aber vergesst das Vaterland nicht«.) Für die Herkunftsländer sind die »Ausgewanderten« sowohl als Quelle des weltweit Milliarden US-Dollar betragenden Devisentransfers und als Konsumenten der Waren aus der »Heimat« unverzichtbar. Hinzu kommt ihre Rolle – wie das Beispiel der Türkei zeigt – als »Wirkung entfaltende Lobbyisten des Vaterlandes«. Das herrschende Politikverständnis im eingewanderten Land wiederum setzt die Einbürgerung als Grundbedingung für die Gewährung von Bürgerrechten voraus. Je länger die Migration andauert, desto stärker wird beiderseitig am reaktionären »Nationalisierungsschraubstock« gedreht.

Diese Tatsache und die reale Ausgrenzung, die gefühlte »Nichtdazugehörigkeit« im Einwanderungsland verstärken dann die Tendenz zur Isolation. In dieser Isolation wird oft mit Hilfe unterschiedlicher Organisationsstrukturen immer wieder eine schlecht kopierte Miniatur des Lebens im Herkunftsland reproduziert. Und weil diese Strukturen (übrigens auch jene migrantischen Politiker, die z. B. für »Deutschlandtürken den Status als nationale Minderheit in Deutschland« einfordern) den Eingang zur und den Ausgang aus der Community regeln, findet eine Interaktion mit der Mehrheitsgesellschaft kaum noch statt. So dreht sich die Spirale der Isolation und Ausgrenzung immer schneller.

Auch das Zeit- und Raumgefüge des MigrantInnendaseins ist mehrdimensional. Die Herkunftskultur, geflochten aus dem Glauben, den Traditionswurzeln und den Antrieben ihrer Ahnen, hat nach wie vor ihre Wirkung auf sämtliche Generationen der MigrantInnen. Satellitenfernsehen, andere Medien sowie kurzfristige Reisemöglichkeiten erlauben, dass in den eigenen vier Wänden »in der Fremde« die »Heimat« weiter existiert. Das Berufsleben, die Konsumtion und die Gründung der eigenen Familie bilden die zweite Dimension dieses Zeit- und Raumgefüges. Als dritte Dimension, allem übergeordnet, kommt schließlich das reale Leben im Einwanderungsland und der Kontakt zur »Außenwelt« hinzu.

In diesem Zeit- und Raumgefüge werden die MigrantInnen zu Wanderern zwischen den Welten bzw. Facetten ihres Lebens. Sie erleben Gestern und Heute, »Heimat und die Fremde« gleichzeitig. Hier liegt die Quelle des Gegensatzes zu »entweder – oder«. MigrantInnen behalten ihre Kultur, ethnische bzw. nationale Identitäten, ihre Traditionen, Sprache und Mentalitäten. Weil sie außerhalb des längst erkühlten »Schmelztiegels« existieren, formieren sich ihre spezifischen Eigenschaften immer wieder aufs Neue. Gleichzeitig aber nehmen sie an den Produktionsprozessen im eingewanderten Land teil, gehen dort in die Schule, erleben das kulturelle Leben und treten auf den Ebenen der Produktion, Bildung und Ausbildung, Politik, Konsumtion und Freizeit in Interaktion mit der Mehrheitsgesellschaft. Auch wenn es eher ein Nebeneinander ist, werden so Einheimische wie MigrantInnen zu gleichen Subjekten der objektiven Entwicklung im gleichen Raum.

Dennoch gewinnt bei diesem »sowohl-als auch-Dasein« die Identitätskrise und Angst die Oberhand. Die, die nichts zu verlieren haben, haben Angst vor Verlust. Die gefühlte Nichtdazugehörigkeit zu »Hüben wie Drüben« leistet einem migrantischen Pragmatismus Vorschub. Obwohl die Fähigkeit, gleichzeitig unterschiedliche Geografien und Kulturen erleben und durchleben zu können vorhanden ist und diese Fähigkeit durchaus große emanzipatorische Potentiale sowie Möglichkeiten eines »neuen universellen Bürgers« beinhaltet, suchen MigrantInnen den Weg des geringsten Widerstandes: weitgehendste Anpassung, Unterordnung, Rückzug in die Eigenwelt, Unsichtbarkeit in gesellschaftlichen und politischen Auseinandersetzungen und – wenn es dann nicht anders möglich wird – Illegalität. Kurzum, sie entscheiden sich stets für ein pragmatisches und praktisches Leben.

Zum Widerstand und zur Mobilisierung sind sie erst dann bereit, wenn das Erreichte bzw. der Status wirklich in Gefahr gerät. Ansonsten zeigen sie die gleiche Reaktion wie die Einheimischen: bei jeder Verschlechterung der eigenen Arbeits- und Lebensverhältnisse richtet sich der zornige Blick nach Unten, zu den Schwächeren und Schwächsten.

Gleichwohl: Dass aus der Migration heraus entscheidende produktive und innovative Kerne (F. Walter) für europäische Gesellschaften erwachsen und in der Migration nicht nur Risiken, sondern vor allem nicht zu unterschätzende Chancen für die Zukunft der bürgerlichen Demokratien vorhanden sind, beweisen unterschiedliche Studien wie die Sinus-Studie 2007. In Zusammenhang mit der Sinus-Studie weist Franz Walter im Übrigen daraufhin, dass »in den ›intellektuell-kosmopolitischen‹ und ›multikulturellen Performermilieus‹ sich eine neue, für das 21. Jahrhundert formative Elite« bilde.

Doch es ist nicht nur diese Elitenbildung, die den europäischen Gesellschaften zugutekommen wird. Migration ist wie eine erfrischende Brise, eine Verjüngungskur, die neue Dynamiken entfalten kann – wenn sich die bürgerliche Gesellschaft bewusst darauf einlassen und die Realität gesellschaftlich wie rechtlich anerkennen würde.

Paradigmen- und Politikwechsel in weiter Ferne

Besonders die Berliner Republik ist weit davon entfernt. Anstatt Anerkennung des unumkehrbar gewordenen Migrationsprozesses und angemessene Reaktion darauf, bestimmt die Erkenntnisverweigerung das politische Handeln. Es bedarf dabei keiner weiteren Beweise, dass Migration auch in der Zukunft weiter stattfinden wird – egal ob es politisch gewünscht ist oder nicht. Solange das Grundgesetz der Bundesrepublik sowie das EU-Recht weiterhin in der heutigen Form gültig sind, werden die Familienzusammenführung, die Freizügigkeit innerhalb der EU und die Einreise von Asylsuchenden und Flüchtlingen fortbestehen. Die bisher vorgenommenen und noch geplanten Einschränkungen werden daran nichts ändern. Leichen von ertrunkenen Flüchtlingen an den Stränden Spaniens belegen, dass es immer jemanden geben wird, der jedes Hindernis zu überwinden versucht.

Selbst wenn es gelingen würde, die Grenzen der EU nicht nur mit unsichtbaren, sondern auch mit realen Mauern zu schützen, könnten damit die bis jetzt aus der erfolgten Migration herausgewachsenen Probleme nicht gelöst werden. Laut Mikrozensus sind von den 15,9 Millionen Menschen mit Migrationshintergrund ca. 47 Prozent ausländische Staatsangehörige, die weiterhin hier leben werden.

Gerade die aktuelle Debatte um die Jugendkriminalität macht es deutlich, dass die bürgerliche Gesellschaft mit der Migrationsproblematik überfordert ist. Sicher, dem hessischen Ministerpräsidenten geht es in erster Linie um wahltaktisches Kalkül. Und natürlich ist es rassistische Hetze, die schon einmal, bei der hessischen Landtagswahl 1999, der CDU zum Erfolg verholfen hat. Aber das ist keine von Einzelperson verursachte Anomalie bzw. kein »Betriebsunfall« der bürgerlichen Demokratie.

Im Gegenteil: Diese rechtspopulistische Haltung ist symptomatisch für die politische Klasse in Deutschland. Die von der Mehrheitsgesellschaft als Fremdkörper angesehene MigrantInnen eignen sich eben bestens für die Spaltung der gesellschaftlichen Widerstände gegen den neoliberalen Wahnsinn. Die Stigmatisierung der MigrantInnen zu Sündenböcken der verfehlten Wirtschafts- und Sozialpolitik ist eine bewusste und systematisch angewandte neoliberale Strategie.

Darin liegt die große Gefahr für europäische Demokratien: jede denkbare sozial-und rechtspolitische Verschärfung setzt zuerst bei MigrantInnen an, um sie dann später auf die gesamte Gesellschaft auszuweiten. Sei es im Sozial-, als auch im Strafrecht. So beispielsweise geschehen bei dem, durch das Grundgesetz garantierten Recht auf informelle Selbstbestimmung.

MigrantInnen sind von Anfang an gläserne Menschen gewesen. Ihr Leben wird von Ge- und Verboten bestimmt. Grundrechte gelten für sie nicht im gleichen Umfang wie für Deutsche. Diese institutionelle Ungleichbehandlung ist eine politische Entscheidung. Deren Skandalisierung war von je her nur die Sache von marginalen politischen Gruppen – die Mehrheit hat es einfach nicht interessiert. Erst als »Deutsche im eigenen Land Ausländer werden« (H. Prantl) sollten, nahm man davon Kenntnis.

Deshalb war das unsägliche Vorgehen des Roland Koch im Januar 2008 nicht allein Wahlkampfmanöver. Wenn soziale Probleme sich verschärfen und die Formierung einer Gegenkraft in Ansätzen sichtbar wird, dann haben nationalistische und rechtspopulistische Töne Hochkonjunktur. Dabei wissen die Neoliberalen ganz genau, dass die Probleme, die sie mit »schärferen Maßnahmen« lösen wollen, hausgemacht sind. Noch vor Jahren hatten Wissenschaftler, die die Folgen der Migration aus fiskalpolitischen Aspekten untersucht hatten, darauf hingewiesen, dass »die Kosten der Nichtintegration von Zugewanderten um ein vielfaches höher liegen wird, wie die Kosten der sozialen Eingliederung«. Diese Tatsache und die Migrationsprozesse wurden bisher regierungsamtlich dementiert, im politischen Diskurs instrumentalisiert und im Verwaltungshandeln tabuisiert. Wie seit Jahren, wird auch heute versucht, den Migrationsprozessen mit Verschärfung von Gesetzen und weitere Abbau von sozialstaatlichen und demokratischen Rechten zu begegnen. Doch, wie mehrfach bewiesen, kann damit eine der wichtigsten gesellschaftspolitischen Aufgaben nicht zu einer Lösung geführt werden.

Im Gegenteil: Damit wird die Einschränkung der Bürgerrechte aller und der seit geraumer Zeit laufende gesamtgesellschaftliche Entdemokratisierungsprozess fortgeführt. Vom neoliberalen Denken befallene bürgerliche Kräfte sind dabei, sämtliche zivilisatorischen Errungenschaften der europäischen Demokratien auf dem Altar der Wirtschaftsinteressen zu opfern. Anstatt sozialstaatliche Regulationen und den demokratischen Rechtsstaat auszubauen, wird mehr und mehr auf einen autoritären, unter dem Deckmantel der »Fürsorglichkeit« Individualrechte einschränkenden Staat gesetzt. Von der Migration verursachte Probleme dienen dafür nur als Vorwand.

Demokratisierung der bürgerlichen Demokratie

Dies zu erkennen, entsprechende Gegenwehren aufzubauen und für einen Richtungswechsel zu kämpfen, ist die primäre Aufgabe der gesellschaftlichen wie politischen Linken in Europa. Notwendig dafür sind nicht nur breite gesellschaftliche Bündnisse und die Wiederaneignung der politischen Gestaltungsfähigkeit, sondern vor allem ein Paradigmenwechsel und eine klare Abkehr von eurozentristischen Sichtweisen im politischen Handeln.

Viel zu lange haben gesellschaftliche und politische Linke in Europa migrationspolitische Fragen als Randthemen und reine Pflichterfüllung behandelt. Dass diese Fragen inzwischen zu den zentralen Herausforderungen der westeuropäischen Gesellschaften gehören, wurde ignoriert.

Marx hatte recht mit seiner These: »Das Sein bestimmt das Bewusstsein«. Solange die fortschrittlichsten Kräfte einer Gesellschaft es versäumen, ihr politisches Handeln aus der Perspektive der Schwächsten heraus zu gestalten und solange die Schwächsten der Gesellschaft keine Möglichkeit finden, dieses politische Handeln als gleichberechtigte Akteure mitzugestalten, solange werden ihre, die gesamte Gesellschaft betreffende Probleme, nur Randthemen bleiben.

Um das zu verdeutlichen, sollen hier zwei Beispiele genannt werden: Der »moralische Antirassismus« und der »Prekarisierungsdiskurs« innerhalb der Linken.

Nach jedem rassistischen Übergriff wird Empörung laut. Gewerkschaften, soziale Bewegungen, Kirchen und natürlich antirassistische Initiativen werden nicht müde, die – sehr wohl berechtigte – Forderung nach dem Verbot von Neonaziorganisationen zu erheben. Auch bürgerliche Kräfte melden sich zu Wort – weil das, was sie denken, zu falscher Zeit, in einem falschen Ort Wirklichkeit wurde. Appelle, um »fehlgeleitete Jugendliche« aus dem rechten Sumpf raus zu holen oder nach dem »Aufstand der Anständigen« werden laut, weil sich die Gesellschaft durch den rassistischen Mob gestört fühlt. Ein »moralischer Antirassismus« macht sich bereit, von denen auch die Linken nicht gefeit sind.

Bei allem Respekt vor der ernstgemeinten Betroffenheit vieler, die sich an Lichterketten und Demonstrationen beteiligt oder mit Appellen zur Ächtung rassistischer Äußerungen oder Gewalttaten an die Öffentlichkeit gewandt haben: Der »moralische Antirassismus« hat nichts an der Tatsache verändert, dass der Rassismus sich tief in der gesellschaftlichen Mitte verankert hat. Die Individualisierung des Rassismus, die Zuschreibung an EinzeltäterInnen, das Ignorieren institutioneller Diskriminierungsmechanismen und das Negieren struktureller Wurzeln des Rassismus haben dazu geführt, dass Rassismus als gesellschaftliches Randphänomen begriffen wird.

Dabei ist Rassismus keine, mit Mitteln der Sozialpädagogik zu bekämpfende Krankheit irgendwelcher »Modernisierungsverlierern«. Auch der Antifaschismus muss nicht neu erfunden werden, um gegen Nazis vorzugehen. Rassismus wurzelt in den herrschenden Produktions-, Eigentums- und Machtverhältnissen. Ein »moralischer Antirassismus«, der sich in Appellen zur gesellschaftlichen Ächtung rassistischer Stimmungsmache oder im Ruf nach ordnungspolitischen Maßnahmen erschöpft, kann dagegen nichts ausrichten. Die erfolgreiche Bekämpfung des Rassismus kann nur gelingen, wenn dieser Kampf in engem Zusammenhang mit dem Kampf um den Erhalt und Ausbau der Sozialstaatlichkeit, um eine gerechtere Wirtschafts- und Sozialpolitik, um mehr Demokratie und Frieden sowie um eine demokratische, entnationalisierte Migrationspolitik geführt wird. Gleichberechtigung aller Bevölkerungsteile ist das wirksamste Gegengift des Rassismus.

Auch in der Frage der »Prekarisierung«*) sind die Linken nationalfixiert. Grundannahme der Debatte ist, dass unterschiedliche Bevölkerungsteile von den Prekarisierungsprozessen betroffen sind. Das ist zwar richtig, aber keine differenzierte Betrachtung. Zum einen, weil die Flexibilisierung im Arbeitsleben der qualifizierten »Weißen« zwar eine Veränderung von Arbeitsstrukturen bedeutet, die jedoch mit der eigentlichen Bedeutung der »Prekarisierung« wenig zu tun hat. Daher sehen Gutausgebildete in der »Prekarisierung« durchaus »Momente erweiterter Selbstbestimmung« und erliegen der Vorstellung, als »eigenverantwortlich handelnde und unternehmerisch denkende, selbständige Individuen« ihre Arbeitsbedingungen einzeln aushandeln können. Diese Sichtweise vernachlässigt jedoch die Tatsache, dass Individualrechte nur dann fundamentiert werden können, wenn Kollektivrechte gewährleistet sind.

Zum anderen werden in diesem Diskurs die gravierenden Unterschiede zwischen »weißen« und »nichtweißen« Unterschichten völlig ausgeblendet. In der Entrechtung und Unterwerfung der MigrantInnen wird die »Autonomie der Migration« glorifiziert und die »positiven Eigenschaften der Prekarisierung« hochgelobt. Alternative Strategien dagegen sind stets individualistisch. So z. B. die Antwort auf die »Prekarisierung«: »Bedingungsloses Grundeinkommen«. Was als visionäre Antwort auf die Herausforderungen des Postfordismus angepriesen wird, entpuppt sich bei näherem Hinsehen als höchst problematisch: Wie werden Grundeinkommen erhaltende Gesellschaften vor jenen, die weiterhin ins Land kommen und auch daran teilhaben wollen, geschützt? Ohne ein restriktives, ausgrenzendes Migrationsregime, die wiederum die bürgerliche Demokratie weiter aushöhlen wird, ist das kaum durchzuhalten.

Wie dem auch sei. Die gesellschaftlichen wie politischen Linken in Europa sind gehalten, die Migration als gesamtgesellschaftliche Herausforderung anzusehen und entsprechende Antworten zu geben. Ohne Gleichberechtigung aller Teile der Gesellschaft, wird jede Anstrengung zur Verbesserung der sozialen Lage, der Arbeits- und Lebensbedingungen, in einem Fiasko enden. Notwendig ist daher ein neuer Gesellschaftsvertrag, der darauf gerichtet ist, die Demokratisierung der bürgerlichen Demokratie voranzutreiben. Die Antwort auf den neoliberalen Umbau der Gesellschaft kann nur heißen: Gleiche Rechte für alle – politisch, sozial und rechtlich. Dieser Herausforderung müssen wir uns alle stellen, wenn wir nicht wollen, dass die Anwesenheit der MigrantInnen für den Todesstoß der europäischen Demokratien als Vorwand dienen soll.

Siehe auch:
Immanuel Wallerstein, »Migration: Reaktion auf die Reaktion?«, in www.binghamton.edu
Klaus J. Bade, »Homo migrans: Wanderungen aus und nach Deutschland: Erfahrungen und Fragen«, 1994, ISBN 3884740962
Faruk Beskisiz, »Göçmenlik ve Örgütlenme – Bir Elestiri« (Migrantendasein und Organisierung – Eine Kritik), 2000, in: www.kozmopolit.com
Demir Küçükaydin, »Marksizmin marksist elestirisi« (Die marxistische Kritik des Marxismus), 2007, in: www.koxuz.de
Matthias Horx, in: http://de.news.yahoo.com/ap/20071227/twl-zukunftsforscher-warnt-vor-kofaschis-1be00ca_1.html
Franz Walter, »Einwanderer-Elite beflügelt Deutschland«, 16. Oktober 2007, in: http://www.spiegel.de/politik/deutschland/0,1518,511474,00.html
Heribert Prantl, in: Süddeutsche Zeitung vom 21. / 22. April 2007
*)Murat Cakir, »Ganz unten, tiefer geht’s nicht«, in: RosaLux Nr. 2/2007
Dieser Artikel erschien im Supplement der Zeitschrift Sozialismus 2/2008