Freitag, 9. Juli 2010

Völkermorddebatte und die Politik der Linken

Januar 2007/ Die Menschheitsgeschichte ist voller Tragödien. Die Anatolische ist eine davon: die Tragödie der türkischen, griechischen, kurdischen und armenischen Völker. Jahrhunderte lang Nachbarn, verschwägert und dennoch verfeindet, abgeschlachtet im Interesse des auf Eigentum begründeten Rechts und imperialer Gelüste. Leidtragende der werdenden Nationalstaaten des letzten Jahrhunderts.

Doch wer denkt, das sei Vergangenheit und nur mehr Sache der Historiker, irrt. Jede Debatte über historische Ereignisse wird auf der Grundlage politischer und wirtschaftlicher Interessen gegenwärtiger gesellschaftlichen Kräfte geführt.

So ist es auch kein Zufall, wenn heute eine verbrecherische Tat aus den Anfängen des vergangenen Jahrhunderts erneut kontrovers thematisiert wird. Die Ermordung von hunderttausenden von armenischen Zivilisten wird, wie zuletzt in den Niederlanden und Belgien geschehen, für politische Zwecke instrumentalisiert. Und auch die politische Linke in Deutschland sieht sich mit der Armenier-Frage konfrontiert.

Konkret: Der Bundestagsabgeordnete Hakki Keskin sieht auch in der Bundesrepublik Deutschland eine Allianz von Armeniern und Griechen am Werk, die die Vernichtung von hundertausenden Armeniern als Argument gegen eine Mitgliedschaft der Türkei in der Europäischen Union einsetzen. Keskin hält es nicht für richtig, dass Angelegenheiten, die vor 90 Jahren in der Türkei passiert sind, denen, die diese Geschehnisse nicht kennen und nichts damit zu tun haben, als Problem vorzulegen. Dies sei keine demokratische Haltung.

Was nun? Wie soll sich die deutsche Linke verhalten und was sagen? Was kann der richtige Schritt auf diesem politischen Minenfeld sein? Unparteiisch »objektive Aufklärung« fordern? Wohl kaum. Der Anspruch Links zu stehen, gebietet zuallererst die Parteinahme zugunsten der Schwachen und eine unverrückbare Politik aus der Perspektive der Opfer. Eine unparteiische Haltung bei einem Konflikt zwischen den Schwachen und Starken – auch wenn es vor 90 Jahren geschah – wird zum Unrecht. Der zweite Schritt wäre »... zu sagen, was es ist« (Lassalle). Unrecht bleibt Unrecht und Mord bleibt Mord, unabhängig davon, ob »durch die authentische Rekonstruierung des historischen Konfliktverlaufs, rechtlich wie wissenschaftlich eine vorsätzliche Vernichtungsabsicht nachgewiesen wird« (MdB Keskin, Januar 2006) oder nicht. Letztendlich ist es notwendig, die politischen, wirtschaftlichen und historischen Zusammenhänge zu benennen.

Worum geht es?

Auch in der Türkei wird nicht bestritten, dass 1915 »eine immens große Zahl von Armeniern« deportiert wurden und dabei Hundertausende umkamen. Die offizielle Sicht des heutigen türkischen Staates spricht dabei von einer »Zwangsumsiedlung, die kriegsbedingt und der militärstrategischen Lage des Osmanischen Reiches während des Ersten Weltkriegs geschuldet« war. Was in anderen Regionen der Welt als »nationaler Befreiungskampf« bezeichnet wird, wird in der offiziellen Lesart in der Türkei zu einer »Kollaboration mit imperialistischen Kräften, die das Vaterland unter sich aufteilen wollten«. Als ob das Osmanische Reich kein feudales Imperium gewesen sei, das andere Völker unterjochte. Der Aufstand der armenischen Nationalisten, die sich von Russland Hilfe erhofften, führte zu zahlreichen Opfern unter der türkischen und kurdischen Zivilbevölkerung. Diese Tatsache wiederum wird in der heutigen Debatte als Begründung für die »kriegsbedingte und nachvollziehbare« Gegenreaktion der osmanischen Führung dargestellt und relativiert wiederum die Verbrechen des osmanischen Staates.

In Folge dieser Gegenreaktion wurden armenische Zivilisten in den Hungertod getrieben und auch ermordet. Wie hoch die Zahl der getöteten oder umgekommenen Menschen war, ist für die gegenwärtige Debatte nicht die entscheidende Frage. Es ist und bleibt ein verbrecherischer Akt. Die Frage in diesem Zusammenhang wäre, wo das Vermögen der Vertriebenen geblieben ist, wer es sich angeeignet hat und welche Rolle die Usurpatoren dann bei und nach der Gründung der Republik Türkei spielten. Der Vorschlag des türkischen Staates, dass eine von Armeniern und Türken gemeinsam zu gründende Historikerkommission die Geschehnisse »wissenschaftlich untersuchen soll«, um dann zu einer »endgültigen, historisch und unverfälschten Beurteilung« zu kommen, dient dazu, eben diese Frage in den Hintergrund zu drängen.

Wenn heute, insbesondere im Zusammenhang mit dem EU-Beitrittsprozess, davon gesprochen wird, dass die EU mit der Thematisierung der Armenier-Frage »unberechtigte Besitzansprüche der Armenier« provozieren wolle, dann entspricht das den realen Ängsten der Entscheidungsträger in der Türkei. Wer hat sich was angeeignet? Wie ist das türkische Bürgertum entstanden? Wie konnten einzelne Familien zu Besitzern der weltweit größten Konzerne aufsteigen? Auf was gründet sich der Reichtum des großen und armeeeigenen Konzerns OYAK und wem gehörten die Liegenschaften, Immobilien und Grundstücke, die heute im Besitz der Armee und anderen Staatsunternehmen sind? Und was ist mit dem Besitz der zehntausend Vertriebenen anatolischen Griechen passiert?

Es ist eine wohlbekannte Strategie des türkischen Staates, mit gezielten Kampagnen besonders in den europäischen Ländern, in denen türkeistämmige Menschen leben, die Aufmerksamkeit von diesen Fragen abzulenken. Dabei wird nach einem immer gleichen Plan vorgegangen. Zuerst werden Äußerungen einzelner Abgeordneten oder ParteivertreterInnen zum Anlass genommen, um mit Berichten in den türkischen Medien die Aufmerksamkeit zu wecken. Dann beginnt eine diffamierende Berichterstattung, in der stets behauptet wird, ein »Bündnis aus Armeniern und Griechen« führe eine »Hetzpropaganda gegen Türkei«. Danach kommen sogenannte Vereine und Verbände ins Spiel und fordern »Deutschlandtürken« auf, dagegen ihre »demokratischen Protest« zu äußern. Türkische Tageszeitungen veröffentlichen Telefon- und Mailadressen von PolitikerInnen und Musterbriefe. Zum Schluss finden dann entweder Demonstrationen oder Kundgebungen statt. Dadurch entsteht der Eindruck, dass massenhaft aus der Türkei stammende Menschen hinter diese Kampagne stünden. Wer die türkische Presse verfolgen kann, wird dieses Muster erkennen.

Entweder oder?

Seit Jahren findet dieses Schauspiel statt. Dabei wird auch gerne auf die „Meinungsfreiheit“ Bezug genommen. Die Meinungsfreiheit, zu behaupten »dass es keinen Völkermord gegeben habe« wird standhaft verteidigt. Dabei wird aber kein Wort darüber verloren, dass die gegenteilige Behauptung eines Völkermords an den Armeniern in der Türkei gemäß dem Gesetz Nr. 305 ein Straftatbestand ist, der durchaus zu Strafverfolgung führen kann. Jede Kritik an den Entscheidungsträgern in der Türkei wird stets als »Türken- oder Türkeifeindlichkeit« oder im Falle von aus der Türkei stammender Menschen als »Separatismus« bezeichnet.

Unerwähnt bleiben darf allerdings auch nicht, dass die armenische Frage gerne als Argument gegen einen EU-Beitritt der Türkei instrumentalisiert wird. Diese auch innenpolitisch motivierte Haltung kann, bei aller Kritik am Beitrittsprozess, von der Linken nicht toleriert werden. Genau wie andere kritische Fragen auch, wird die armenische Frage zur Durchsetzung von neoliberalen Diktaten der EU missbraucht. Dabei wissen gerade gesellschaftliche wie politische Linke in Europa, dass die derzeitige EU-Führung, die die sozialen und demokratischen Rechte in den Mitgliedsländern abbaut und die EU zu einer militaristischen Interventionsmacht umbauen will, die Fragen der Demokratie, der Menschenrechte und der Meinungsfreiheit nur als Faustpfand benutzt. Wer – wie die EU – in den letzten Jahren zur Vertreibung von hunderttausenden KurdInnen, zur Brandschatzung von Wäldern, Dörfern und Vieh sowie dem »schmutzigen Krieg« nichts gesagt hat, dem ist die Anerkennung der Verbrechen des osmanischen Staates nur ein Mittel zum Zweck.

Für die deutsche Linke sollte gelten: weder Nationalismen noch Instrumentalisierung versuche der Armenier-Frage dürfen politisch toleriert werden. Im Bewusstsein, dass die Grenzen nicht zwischen den Völkern, sondern zwischen Oben und Unten verlaufen, hat die Linke die Verantwortung sich im Sinne ihrer bewährten Werte zu positionieren. Erst wenn die Völker ihre eigene Geschichte selber schreiben können, werden nachhaltige historische Einschätzungen und Urteile Bestand haben. Wenn deutsche Linke vergessen haben sollten, dass schon Karl Liebknecht die Mitverantwortung Deutschlands an der Tragödie der anatolischen Völker angeprangert hat, dann sollten sie Schweigen und lernen zuzuhören. Vielleicht würden sie dann auch bemerken, dass Europa nicht Mittelpunkt der Erde ist und man durchaus von nicht (EU-)europäischen Linken im Hinblick auf die Geschichte etwas lernen kann.

Am 11. Januar 2007 auf der Website der Zeitschrift Sozialismus und am 13. Januar 2007 in der Tageszeitung Yeni Özgür Politika veröffentlicht.