Sonntag, 12. September 2010

Er starb, wie er lebte: Stehend wie ein Baum

Nachruf zum Tode Rogelio Barrosos

Schlechte Nachrichten verbreiten sich schnell. Schon nach wenigen Stunden wurde ich angerufen. Rogelio war verstorben. Dabei hatte ich ihn doch erst vor ein paar Tagen gesehen. Am Jahrestag des Kunduz Massakers, am 4. September 2010 standen wir Seit an Seit in der Mahnwache des Kasseler Friedensforums.

Ich war nicht der einzige, der so dachte. Quasi Jede und Jeder, mit denen ich später sprach, sagte »aber ich habe ich doch erst vor kurzem gesehen…«. Er war nicht mehr gut zu Fuß. Doch das hielt ihn nicht davon ab, mit 78 seinen Pflichten als Stadtrat nachzukommen. Esmachte ihm einfach viel Spaß, JubilarInnen zu gratulieren und die Stadt zu repräsentieren. Repräsentabel genug war er ja. Immer akkurat angezogen und mit einem Charme, dem Niemand widerstehen konnte.

Kein Grund konnte ihn davon abhalten, seinen Job – egal als Repräsentant der Stadt, Vorstandsvorsitzender des Beirats oder irgendeines Vereins, als Handelsreisender in Sachen Selbstvertretung der MigrantInnen oder einfach als Helfer an einem Paella-Stand oder Infostand – mit Lust und Spaß nachzukommen. »Sogar vom Tod lasse ich mir meinen Spaß nicht verderben« sagte er gelegentlich.

Bis zuletzt war er aktiv. Er starb, wie er lebte: Stehend wie ein Baum. Getreu der Devise von Dolores Ibárruri, genannt La Pasionara, die er kritisch-innig verehrte: »Lieber stehend sterben, als auf Knien leben!«. Wieder einmal wurde er mir ein Vorbild, sogar in seinen letzten Stunden.

Vor über 30 Jahren hatte ich Rogelio kennengelernt. Der »kleine Spanier, der auszog, um den Teutonen menschliche Wärme und Temperament beizubringen« war damals Vorsitzender der Bundesvereinigung Spanischer Vereine. Schon damals war er ein engagierter Kämpfer für Freiheit, Demokratie und Frieden. Das Kulturzentrum Schlachthof in der Kasseler Nordstadt, in dem zahlreiche MigrantInnenvereine ihre Räume hatten, war sein zweites Zuhause geworden. Nach kurzer Zeit, nach dem er 1960 al Henschel-Arbeiter nach Kassel kam, beteiligte er sich an dem Kampf gegen die Franco-Diktatur. Auf Diktatoren hatte er lebenslang eine Abneigung. Nach dem Militärputsch am 12. September 1980 in der Türkei, war er ein Teil der Solidaritätsbewegung mit den türkischen und kurdischen Demokraten.

Aber nur heimatbezogene politische Arbeit war für ihn zu wenig. »Wenn wir schon hier leben, dann müssen wir uns kräftig einmischen« hatte er mir eingetrichtert. Die Selbstvertretung war ihm ein hohes Gut. Deshalb setzte er sich hartnäckig und unermüdlich, aber auch herzlich und glaubwürdig für die Selbstvertretung der »AusländerInnen« ein – damals auch gegen den Widerstand einiger, die als »FreundInnen der Ausländer« gegen Ausländerbeiräte waren.

Er war Kommunist und Sozialist. Aber nie ein Dogmatiker - »Wenn Dogmas richtig wären, wäre ich jetzt ein Priester« sagte er. Seine undogmatische und solidarische Art gab ihm die Kraft, den Ausländerbeirat der Stadt Kassel 1981 als einer der ersten Beiräte aus der Taufe zu heben. Am Tage der Konstituierung, damals war sein Freund Hans Eichel Oberbürgermeister der Stadt Kassel, war Rogelio »stolz wie ein Spanier«. Sogar unser 2 m Mann Suljo Hajzeraj schaute auf ihn herauf, so stolz war er.

Dem Ausländerbeirat Kassel gehörte er 16 Jahre an, 9 Jahre davon als Vorsitzender. Mich hat er motiviert, mich für und in dem Ausländerbeirat zu engagieren. Später bildeten Rogelio, Athena Karagouni-Rehrmann und ich das vorsitzende Gremium. Er half nicht nur in Kassel, den MigrantInnen zu ihrer Selbstvertretung. In Hessen, ganz Deutschland und sogar in Österreich war er Geburtshelfer zahlreicher AusländerInnenvertretungen. Er war die Solidarität in Person. Obwohl er ein Atheist war, kämpfte er für die Gleichberechtigung der Religionen und Kulturen und setzte sich beispielsweise erfolgreich für muslimische Grabstätten ein. Angehörige vieler muslimischer Verstorbenen, die in Kassel beerdigt sind, sind heute noch Rogelio dankbar.

Er war Mitbegründer der Arbeitsgemeinschaft der Ausländerbeiräte Hessen, später Landesausländerbeirat und 15 Jahre lang in dessen Vorstand. Ich hatte das Glück, 10 Jahre mit ihm im Vorstand der AGAH zusammenzuarbeiten. Aber nicht nur dort, auch bei der Gründung der bundesweiten Vertretung der Ausländerbeiräte, dem Bundesausländerbeirat wirkte er tatkräftig mit.

Rogelio war Namensgeber unserer Gremien. Einmal, kurz nach einem bundesweiten Treffen der Ausländerbeiräte, hörte ich in den Fernsehnachrichten, dass »der Spanier Barroso erklärt« habe, »die Bundesarbeitsgemeinschaft der Ausländerbeiräte, die BUAGA« gegründet worden sei. Später, auf den Namen »BUAGA« angesprochen, antwortete er, »mir fiel nichts besseres ein. Hätte ich BUGA gesagt, dann hätte es sich angehört wie die Bundesgartenausstellung, das war mir zu blöde«. Um Antwort war er nie verlegen, auch nicht Konfliktscheu. Er vertrat bis zum Ende das, voran er glaubte. Aber er war immer Kompromissbereit.

In der Zeit, als die hessischen Ausländerbeiräte nahezu 3 Jahre lang sich in Satzungsdiskussionen verstrickten, war er immer einer derjenigen, der unsere Debatten aus der Ausweglosigkeit herausholte und uns auf das Wesentliche besonnte. Sein hoher Sachverstand, sein Verständnis und die Fähigkeit zur Empathie, seine Beharrlichkeit, aber vor allem seine liebenswerte Art und grenzenlose Herzlichkeit waren ihm wie angeboren und uns eine große Hilfe.

1997 wurde er für die SPD ehrenamtlicher Stadtrat. In der Stadt war er bekannt wie ein »bunter Hund«. Er wurde das personifizierte Beispiel für die BürgerInnennähe und soziale Verpflichtung der Politik. Durch diese BürgerInnennähe hat Rogelio in den Herzen der Menschen in Kassel einen unverrückbaren Platz eingenommen. Parteiübergreifend genoss er eine große Anerkennung.

Später, 2005, wurde ich diesmal der »Motivator« für ihn. Wir beide waren gemeinsam in der SPD und nun auch gemeinsam in der WASG. Er trat für die Liste Kasseler Linke. ASG an und wurde nach den Kommunalwahlen wieder Stadtrat. Auch in unserer Partei DIE LINKE war er engagiert bis zuletzt. Er blieb was er war: ein engagierter Friedensaktivist, ein ehrwürdiger Stadtrat, ein überzeugter Antifaschist, Sozialist, Gewerkschafter und ein Vorkämpfer für gleiche Rechte und soziale Gerechtigkeit. Für mich war und bleibt Rogelio ein Vorbild des sozialen, politischen und kulturellen Engagements, der sein Herz immer auf dem rechten Fleck hatte.

Anerkennungen zu erhalten war für ihn nie wichtig, aber er freute sich darüber wie ein Kind. Für sein ehrenamtliches Engagement erhielt er 1984 das Bundesverdienstkreuz am Bande, 1991 die Ehrenmedaille der Stadt Kassel und 1997 den Ehrenbrief des Landes Hessen. Aber er war Selbstlos. »Diese Anerkennung nehme ich nicht nur für mich an, sondern auch im Namen aller Migrantinnen und Migranten« sagte er.

Über seinen unerwarteten Tod bin ich zutiefst traurig. Denn ich habe einen väterlichen Freund, einen Weggefährten und einen Genossen verloren. Aber die MigrantInnen in Deutschland haben einen ihrer engagiertesten und unermüdlichsten Mitstreiter für gleiche Rechte, Frieden, Demokratie und soziale Gerechtigkeit verloren, der als Vorreiter für die Anliegen und die politische Selbstvertretung der MigrantInnen weit über die Landesgrenzen hinaus bekannt war.

Seinen Kampf fortzuführen ist für mich eine Verpflichtung.