Mittwoch, 9. Februar 2011

Das türkische Trauma

Über die Ängste und Tabus der türkischen Gesellschaft

Während in der arabischen Welt Volksaufstände und Widerstand gegen despotische Herrscher sich wie ein Flächenbrand ausbreiten, werden vor allem in den westeuropäischen Medien die Türkei als »Vorbild« angepriesen. Ein Blick in die jüngste Geschichte der Türkei und die aktuelle Politik reicht jedoch aus, dass weder die Türkei als Staat, noch die türkische Gesellschaft für die Völker im Nahen Osten als Vorbild dienen können.

In den arabischen Aufständen ist zu beobachten, dass insbesondere Mittelschichten, die in der Vergangenheit von den Despoten in die Regime kooptiert waren, nun die treibende Kraft der Veränderungen wurden. Doch wie sieht es in der Türkei, besonders westlich des Euphrats denn aus? Können die türkischen Mittelschichten ähnliche Veränderungsprozesse auslösen? Vielleicht dazu beitragen, dass die klaffende Wunde, die als »Kurdenfrage« bezeichnet wird und alle anderen Probleme des Landes überdeckt, friedlich geheilt werden kann?

Die gesellschaftliche Realität im Westen der Türkei scheint jedoch alle diesbezüglichen Hoffnungen zu betrüben. Obwohl seit einigen Jahren die Notwendigkeit eines Demokratisierungsprozesses in der Öffentlichkeit breit diskutiert und auch weitgehend geteilt wird, ist innerhalb der türkischen Gesellschaft vermehrt Kurdenfeindlichkeit und offen rassistische Tendenzen zu beobachten. Das hat vielfältige Gründe.

Ohne Zweifel ist die offizielle Staatspolitik ein wesentlicher Grund. Die seit der Gründung der Republik fortgeführte Assimilierungspolitik, das Verständnis, die »Kurdenfrage« als ein Problem der Sicherheit zu sehen und auf militärische Mittel zu setzen, das militärisches Vormundschaftsregime und die imperialen Gelüste der türkischen Entscheidungsträger, gepaart mit der nationalistisch-chauvinistischen Berichterstattung der gängigen Medien, hat dazu geführt, dass alle Forderungen nach Gleichberechtigung und demokratischen Rechten für das kurdische Volk von der Mehrheitsgesellschaft noch im Keime erstickt werden.

Die Abwehrhaltung der staatstragenden Kräfte gegen die Forderungen der kurdischen Befreiungsbewegung ist nachvollziehbar. Denn das Konzept der »demokratischen Autonomie« bedeutet im Grunde genommen nichts anderes als eine weitgehende Demokratisierung des Staates und der gesamten Gesellschaft. Es bedeutet eine grundlegende Umwälzung der Verhältnisse, in der die bisherigen Herrschaftsinstrumente ihre Bedeutung verlieren. Eben eine Gesellschaft, die – um es mit den Worten von Abdullah Öcalan zu sagen – »Jenseits von Staat, Macht und Gewalt« ein demokratischer, gleichberechtigter und freiwilliger Zusammenschluss von freien Individuen wird. Dass eine solche Gesellschaftsvision auf keine Gegenliebe der türkischen Entscheidungsträger stößt und sie alles Erdenkliche dagegen unternehmen wollen, ist verständlich. Doch, das ist nicht das Thema dieses Artikels.

»Der Türke hat, keine anderen Freunde als Türken!«

Es wäre keine Binsenweisheit zu behaupten, dass diese Politik der Herrschenden, die staatlicherseits geschürten Bedrohungsszenarien und der Nationalismus die Gesellschaft negativ beeinflusst und manipuliert. Aber auch die türkische Gesellschaft produziert Ängste und rassistische Abwehrhaltungen jeden Tag aufs Neue.

Gerade der letzte Standard Eurobarometer der EU belegt, dass die »Türken große Ängste haben, ihre nationale Identität zu verlieren«. Laut Eurobarometer nehmen diese Ängste und die Befürchtungen, dass »unser Land gespalten wird« den ersten Platz ein. Während als dringliche Probleme Arbeitslosigkeit und »Terrorismus« genannt wird, haben »Demokratie« und »kulturelle Vielfältigkeit« nur sekundäre Bedeutung.

Das kommt nicht von ungefähr, denn auch kritische Geister und gar türkische Linke sind nicht davon gefeilt, den Einfluss des zutiefst rassistischen Erziehungssystems gänzlich zu überwinden. Selbst der Autor dieser Zeilen sang als Grundschüler Kinderlieder wie »eins, zwei, drei, hoch leben die Türken juchhei, vier, fünf, sechs, die Russen sind wie die Pest... die Griechen Verräter, die Bulgaren Kindermörder, Araber dreckig und hinterhältig, Deutsche Schweine usw.«.

Schon in der Grundschule wurde und wird heute noch den Kindern eingetrichtert, dass die »arische Rasse der Türken, die stärkste Nation der Welt hervorgebracht« habe, »die Türken unter der Führung von Atatürk glorreich gegen den Rest der Welt gekämpft« haben, die »Imperialisten unser geliebtes Vaterland ausschlachten« wollen und deshalb »der Türke keine anderen Freunde als Türken« hätte.

So ist es in allen gesellschaftlichen Schichten üblich, sogar bei Familientreffen über die »Spaltungsversuche der EU«, »von der USA gekauften Politiker«, »islamistische Gefahr« und »überall lauern Feinde der Türkei« unkritisch und wie selbstverständlich gesprochen wird. Dass gegen die Türkei »seit der Gründung der Republik ein internationales Komplott geschmiedet« werde und die »Kurden nun Handlanger des Imperialismus geworden« seien, sind breitgeteilte Meinungen innerhalb der türkischen Gesellschaft

Phobien der »weißen Türken«

Seit 2002 ist zu beobachten, dass die Gesellschaft in der Türkei eine dreigeteilte Gesellschaft geworden ist. Während die »Kurdenfrage« eine dicke Trennungslinie zwischen den kurdischen und türkischen Bevölkerungsgruppen ausmacht, machen die Diskussionen um den Laizismus türkischer Art die zweite Trennungslinie aus.

Besonders die Mittelschichten im westlichen Teil der Türkei sehen mit der AKP-Regierung ihre Lebensweise unter »islamistischer Bedrohung«. Das Regierungshandeln der AKP gibt natürlich viel Anlass dafür. Die AKP und sie tragenden Kräfte würden die »Demokratie ausnutzen, um den Staat mit einem trojanischen Pferd zu unterwandern«. Aus diesem Grund sehen sie jegliche Demokratisierungsschritte, die im Grunde nur kosmetische Operationen sind, als Versuche, »den Staat zu übernehmen«. Dass die Armeeführung mit der AKP-Regierung nun Kompromisse eingegangen ist und durch ein Verfassungsreferendum die Justiz »ziviler« gestaltet wird, vertieft diese Ängste. Es ist daher nicht überraschend, dass moderne Kreise sich für »mehr Einfluss der Armee in der Politik und Staatsführung« und für die »Wiedereinführung einer kemalistischen Einpartei-Diktatur« einsetzen.

Auf der anderen Seite sehen besonders diejenigen, die den Laizismus als eine »paternalistische Entmündigung« der Muslime verstanden haben, in der parlamentarischen Demokratie die Möglichkeit, am Staat und dem Reichtum zu partizipieren. Für diese muslimisch-konservativen Kreise entstanden mit der AKP-Regierung viele neue Möglichkeiten der Kapitalakkumulation, die in der Vergangenheit den privilegierten Mittelschichten, der Bürokratie und den Militärs, kurz den »weißen Türken« zustanden.

So ist ein Paradoxon entstanden: während moderne Türken sich gegen die Ausweitung der bürgerlichen Demokratie wenden, setzen sich konservative Teile, die eine islamische Republik präferieren, auf die parlamentarisch-bürgerliche Demokratie.
Doch was diese beiden Gruppen eint, ist der »Geist von Sèvres«, also die Gefahr der »armenischen und kurdischen Staaten auf dem Territorium der Türkei«. Diese vermeintliche Gefahr wird stets von den Regierungen wachgehalten. So sprach der Außenminister Davudoglu vor kurzem davon, dass »wir zur Verfestigung der Abgrenzung solcher Gefahren wahrscheinlich unser monokulturelles, nationalstaatliches Verständnis vom Islam stärken müssen«. Derlei Sprüche stoßen in der konservativ islamisch und nationalistisch geprägten Anhängerschaft der AKP auf fruchtbarem Boden.

Gleichzeitig muss aber auch betont werden, dass besonders in den westlichen Metropolen, aber auch in Küstengebieten seit etwa 20 Jahren stetig eine wachsende gesellschaftliche Ausgrenzungshaltung gegenüber kurdischer BinnenmigrantInnen zu beobachten ist. Das hat nicht nur mit der Staatspolitik und der Medienhetze zu tun.
Die durch die Auswirkungen des schmutzigen Krieges in Kurdistan und dem neoliberalen Umbau im ganzen Land verursachte Binnenmigration in die westlichen Gebiete führen innerhalb der türkischen Unterschichten zu Abwehrhaltungen wegen Konkurrenzdenken und in den Mittelschichten zu einem nationalsozialistisch gefärbten Wohlstandschauvinismus.

Armut, Arbeitslosigkeit, Gentrifikation in städtischen Zentren, die soziale Frage an sich, Kriminalität in den Metropolen werden ethnisiert und in Folge dessen zu neuen Dynamiken der Ausgrenzung. Die Prekarisierung der Arbeitsverhältnisse, oder besser gesagt, die Proletarisierung wird mehr und mehr Kurdisch. Während in den Metropolen sogar in Romavierteln kurdische BinnenmigrantInnen als »Eindringlinge« beschimpft werden, gehen in ländlichen Gebieten Westanatoliens Einheimische gegen kurdische SaisonsarbeiterInnen vor und verlangen ihre Zwangsrückkehr – ggf. mit polizeilichen Mitteln.

So ist eine Situation entstanden, dass innerhalb der Türkei von zwei Ländern – dem Westen und Osten des Euphrats – zu sprechen ist, die politisch, wirtschaftlich, gesellschaftlich und kulturell völlig unterschiedlich sind. Im Osten des Euphrats wird die kurdische Bevölkerung zunehmend politisiert. Es entstehen auf Geschlechtergleichheit basierende demokratische Rätestrukturen und neue Freiheitsräume trotz staatlicher Gewalt.

Aber im Westen vergiften Ängste, Tabus, Spaltungsphobien, Wohlstandschauvinismus, Nationalismus und rassistische Abwehrhaltungen zusehends das gesellschaftliche Klima. Anstatt die Demokratisierung und das Konzept der »demokratischen Autonomie« als eine Chance für das gesamte Land zu begreifen, werden autoritäre Herrschaftsstrukturen, Unterdrückung und ein monokulturelles Gesellschaftsbild akzeptiert.

Zwar werden auch im Westen der Türkei die Entwicklungen in der arabischen Welt weitgehend mit Sympathie verfolgt, aber es ihnen gleich zu machen, scheint keine Option zu sein. Die Situation der türkischen Gesellschaft, die durch Bedrohungsszenarien in eine Angststarre verfallen ist, weist somit auf eine bekannte Weisheit hin: »Ex orient lux« - die Sonne geht im Osten auf!

Es steht m. E. fest: die Freiheit des kurdischen Volkes ist der einzige Schlüssel für eine Zukunft der türkischen Gesellschaft, um frei von Ängsten und Tabus, in Frieden leben zu können.