Freitag, 15. April 2011

»Die strategische Imperative«

Die Beziehungen der deutsch – osmanisch/türkischen Staaten vom 19. Jahrhundert bis in die Anfangszeit der NATO
Referat auf der Konferenz »Tatort Kurdistan« am 15. April 2011 in Köln

Ich danke für die Einladung zu dieser Konferenz und für die Möglichkeit, hier mit euch diskutieren zu können. Doch muss ich einräumen, dass besonders die deutsch-osmanischen Beziehungen nicht unbedingt mein Spezialgebiet sind. Sicher habe ich wie andere Türkeiinteressierte einige Kenntnisse darüber, aber Nick Brauns, der zu diesem Thema geforscht hat, wäre, so glaube ich der richtigere Referent zu diesem Part. Als ich diesen Referat vorbereitete habe ich viel von seinen Arbeiten, aber auch von Johannes Glasneck, der eine wissenschaftliche Abhandlung über die Propagandatätigkeit des Dritten Reiches in der Türkei geschrieben hat, profitieren können.

Aus beiden Arbeiten, aber auch aus verschiedenen Quellen ist herauszulesen, dass die Beziehungen deutscher Staaten zur Türkei seit nahezu 150 Jahren von einer Konstante – oder um es mit den Worten von Klaus Naumann, dem ehem. Generalinspekteur der Bundeswehr und Vorsitzenden des NATO-Militärausschusses zu sagen, von einer »strategischen Imperative« bestimmt werden. Auf ein Kurzformel gebracht: diese »strategische Imperative«, also die Staatsräson in Deutschland, war stets die Bindung und Unterstützung der Türkei und ist heute noch gültig. Erlaubt mir hier, bevor ich zu der historischen Betrachtung der deutsch-osmanisch/türkischen Beziehungen komme, einiges zu den heutigen Beziehungen zu sagen.

Während heute Klaus Naumann darauf hinweist, dass »die Chancen Europas und der NATO« in dem Dreieck Balkan-Kaukasus-Naher Osten, »Einfluss zu wahren, ohne die Türkei sehr gering« sei und »die Bindung der Türkei an die EU, an die NATO, an den Westen für uns in Europa eine strategische Imperative ist« da »ohne die Türkei, Europa seine ehrgeizigen strategischen Ziele, ein globaler Akteur (…) zu werden, nicht erreichen« [1] könne, schrieb der deutsche Kolonialstratege Paul Rohrbach schon 1902: »Einzig und alleine eine politisch und militärisch starke Türkei ermöglicht es uns, dafür zu sorgen, dass die großen Aussichten, welche sich in den Ländern am Euphrat und Tigris für die Vergrößerung unseres Nationalvermögens und die Verbesserung unserer wirtschaftlichen Bilanz bieten, auch wirklich mit einiger Sicherheit in die Sphäre der realen Existenz übergehen können. Für eine schwache Türkei keinen Pfennig, für eine starke, soviel nur irgend gewünscht wird«[2] Wie sehr doch beide Feststellungen, trotz 109 Jahre Zeitunterschied, sich gleichen. Klaus Naumann liefert hierfür die Begründung: »das dafür entscheidende Argument ist die geostrategische Lage der Türkei«.[3]

Es ist von daher keine Binsenweisheit zu behaupten, dass von Beginn an die strategischen, ökonomischen und politischen Interessen die Hauptelemente sind, welche die Ausrichtung und Intension der deutsch-osmanisch/türkischen Beziehungen bestimmen. Und das kommt nicht von Ungefähr – lassen wir hier wieder Klaus Naumann sprechen:

»Aber warum ist nun die Türkei aus der Sicht eines Europäers so herausragend in ihrer geostrategischen Bedeutung?
1.)Die Türkei kontrolliert das Schwarze Meer und seine Aus- und Zugänge in das Mittelmeer.
2.)Sie ist aus europäischer Sicht die Barriere zu der instabilen Zone des Nahen Ostens.
3.)Sie ist die Landbrücke nach Zentralasien und
4.)sie bietet Europa die Möglichkeit, Kontrolle des östlichen Mittelmeeres und der Ausgänge des Suez Kanals zu wahren«
.

Weiter meint Naumann, »Die Schlüsselzone der Sicherheitspolitik der näheren Zukunft ist der Raum des erweiterten Nahen Ostens. Die Türkei ist geographisch Sperrriegel und Brücke zu der Zone zu der beispielsweise 65 Prozent der europäischen Gas- und Öllieferungen laufen, übrigens nicht mehr für die USA ist der Nahe Osten die entscheidende Öl-Versorgungszone, sondern für Europa. (…) Die Türkei hat gute Beziehungen zu Israel und Syrien und ist deshalb auch aus europäischer Sicht ein Mittler, den Intakt zu halten im strategischen Interesse Europas ist«. Womit wir hier wieder bei Paul Rohrbach wären.

NATO-Partner, Ordnungs- und Stabilitätsfaktor und Nahost-Vermittlerin: man könnte meinen, die Türkei sitze zwischen allen Stühlen. Dass die Türkei als eine Brücke zwischen dem Westen und der islamischen Welt bezeichnet wird, rührt nicht nur von ihrer geographischen Lage her. Immerhin ist sie mit ihrer Dynamik, wirtschaftlichem Wachstum und den regionalen Ansprüchen, die sie mit ihrer militärischen Gewaltmaschinerie durchaus zu formulieren weiß, zu einem der wichtigsten Schwellenländer der Welt geworden. Ihre Kooptierung in die globale Strategien über die G20-Mitgliedschaft, ihre verstärkte Einbeziehung in die Entscheidungsprozesse der internationalen Politik und die Unterstützung durch den Westen zeigen, wie sehr die Türkei als »Stabilisierungsfaktor in einer Region der Instabilitäten« (Gerhard Schröder, 1999) angesehen und anerkannt wird.

Als eine ausgreifende Regionalmacht im südöstlichen Vorfeld Europas verfügt sie über Einfluss in der Region, die für die imperialistischen Interessen immer wichtiger wird. Die Türkei ist dabei eines der wichtigsten Energieumschlagsplätze zu werden, von dem aus die Erdgas- und Erdölreichtümer des kaspischen Beckens und des Nahen Ostens auf dem Weltmarkt gebracht werden. Außerdem verfügt sie über ein immens wichtiges strategisches Gut: Wasser. Naumann dazu: »Die Türkei ist hier in einer unglaublich günstigen Position durch die großen Wasserreservoirs, die sie im Südosten angelegt hat und Wasser könnte eine der Konfliktursachen des 21. Jahrhunderts schlechthin werden«. [4]

Ihre NATO-Mitgliedschaft spielt eine wesentliche Rolle für den Westen. Naumann schwärmt nicht umsonst von den Fähigkeiten der türkischen Armee: »Nach Zahlen und Qualität leistet die Türkei eine für die westliche Allianz einen unverzichtbaren Beitrag und an die guten Leistungen und an die herausragende Disziplin türkischer Soldaten aus Heer, Luftwaffe und Marine erinnere ich mich gerne«. Jetzt wird der Herr General a.D. Richtig euphorisch: »Ich werde nie vergessen, wenn immer man türkische Soldaten begrüßen musste, dass man sie begrüßte mit Merhaba asker und dann mit einem donnernden Sagol beinahe akustisch in die Ecke gestellt wurde«. Tja, die preußischen Tugenden - da blüht jedem Militaristen das Herz auf!

Naumann lobt weiter: »Die türkischen Streitkräfte verdienen auch deswegen im NATO-Kontext besondere Erwähnung, weil sie vermutlich die einzigen europäischen Streitkräfte sind, die nicht unter demographischen Entwicklungen leiden werden wie all die anderen, die in der Zukunft große Probleme haben werden, junge und leistungsfähige Menschen für die Streitkräfte zu gewinnen«. [5]

Hier sollte in diesen Zusammenhang auch erwähnt werden, dass die Belobigung der türkischen Streitkräfte durch Naumann auch als eine Kundenbetreuung verstanden werden sollte. Wie in der Vergangenheit, ist es heute auch so, dass die militärische Beratung wie Zusammenarbeit und Waffenverkäufe deutscher Rüstungskonzerne gleichbedeutend sind. Für die TeilnehmerInnen dieser Konferenz dürfte es nicht unbekannt sein, dass laut SIPRI 15 Prozent der Waffenverkäufe deutscher Rüstungskonzernen an die Türkei geht.

Was den NATO-Beitrag der Türkei betrifft, hat Naumann recht: Mit ihrer, dank des jahrelangen schmutzigen Kriegs gegen die kurdische Bevölkerung modernisierten Armee, dem militärisch-bürokratischen Vormundschaftsregime und der Generalität, die als uniformierte Kapitalisten Verfügungsgewalt über den militärisch-industriellen Komplex haben, ist die Türkei eine Militärmacht, die nach den USA und Israel größere Erfahrungen im »Warmen Krieg« nachweisen kann. Sie ist willens und fähig, ihre Herrschaftsansprüche gegen die Gegner im Inneren und in den Nachbarländern durchzusetzen. Sie hat immer wieder unter Beweis gestellt, wie sie ihre militärische Gewaltmaschinerie zur Konsolidierung der Staatsmacht einsetzen konnte. Die Türkei, »deren wichtigstes Exportartikel ihre Armee ist«, so Soros, ist mit ihrer schlagfähigen und modernen Armee für die USA, EU und NATO ein »verlässlicher und leistungsfähiger Verbündeter« (K. Naumann)

Die Entscheidungsträger der Republik Türkei sind der Bedeutung, welches vom Westen der Türkei beigemessen wird, durchaus bewusst. Daraus und aus der inzwischen gefestigten Partnerschaft zwischen der Armeeführung und der zum Neoliberalismus konvertierten islamistischen AKP-Regierung wächst ihr neues Selbstbewusstsein, mit der sie in der Region subimperialistische Ansprüche stellen.

Der türkische Journalist Cengiz Candar beschreibt die neue Rolle der Türkei wie folgend: »Die Türkei ist ein lebendiges und dynamisches Land, das in den nächsten zehn Jahren das Ziel erreichen will, unter den ersten 10 großen Ökonomien der Welt zu sein. Die türkische Wirtschaft ist inzwischen so stark, so dass sie innerhalb der eigenen Landesgrenzen nicht mehr zu halten ist. Diese wirtschaftliche Stärke, welche die Türkei zu einer Regionalmacht gemacht hat, wird nun dazu genutzt, eine politische Macht zu werden. Deshalb entfaltet die Türkei mit der Hilfe ihrer 'Soft-Power' – Politik im Nahen Osten politische Aktivitäten und übernimmt die Rolle als Problemlöserin – in manchen Fällen auch ohne ein grünes Licht aus den USA«. (Tageszeitung Radikal, vom 7. Juni 2010)

Es mag sein, dass dieses neue Selbstbewusstsein und das Stellen von höheren Ansprühen vermehrt zu Widersprüchen zwischen den Entscheidungsträgern des Westens und der Türkei führen, doch dies ändert nichts an der Tatsache, was die Türkei war, ist und bleiben soll: Ein Bollwerk imperialistischer Interessen in dem Dreieck Balkan-Kaukasus-Naher Osten.

Wie alles begann

Es war alles vorauszusehen: das Osmanische Reich, welches Jahrhundertelang verschiedene Regionen und Völker unterjocht hatte, schwächelte selbst gegen Ende des 19. Jahrhunderts und wurde in Europa verächtlich als »der Kranke Mann am Bosporus« bezeichnet. Überall im Reich fanden Aufstände statt, die werdenden Nationalstaaten durchlöcherten die Territorien. Die osmanische Armee war zu schwach, gegen die Aufständischen vorzugehen. Die Korruption verfaulte die Staatsverwaltung. Auch finanziell ging es dem Ende zu – das Reich stand unter dem Diktat des internationalen Finanzkapitals. Das kränkeln des ehemals »glorreichen« Osmanischen Reichs weckte die imperialen Gelüste der anderen Großmächte.

Nick Brauns hat in seiner Arbeit »Die deutsch-türkischen Beziehungen vor dem Ersten Weltkrieg 1914« diese Entwicklung näher betrachtet und erklärt darin worin das Interesse der Großmächte lag: »Die asiatische Türkei war reich an Öl, Kupfer, Chrom, Blei und Mineralstoffen. (…) Der Besitz oder zumindest der Zugriff auf die Ölfelder und die Möglichkeit zur kolonialen Ausbeutung der reichhaltigen Rohstoffe lag im direkten Interesse aller imperialistischen Nationen. Als ein unterentwickeltes Land bot die Türkei weitreichende Anlagemöglichkeiten für europäisches Kapital und einen großen Exportgütermarkt. Daneben lag das Osmanische Reich in einer der wichtigsten Regionen der Welt, so dass geostrategische Fragen im Vordergrund der Politik der Großmächte standen«. [6]

Zudem hatte das Osmanische Reich mit den Meeresengen Dardanellen und Bosporus eine Schlüsselposition in der Hand. Für Russland, aber auch für England, das daran interessiert war, die Handelsrouten freizuhalten, hatten die Meeresengen eine große militärische Bedeutung. In diesem Zusammenhang weist Brauns auf die damalige Gefahrensituation für die Großmächte hin: »Die Schwäche der Türkei macht die Situation so gefährlich. Die strategischen Handelswege und die Meerengen im Besitz einer starken unabhängigen Macht würde Sicherheit für alle anderen Mächte bedeuten. Nun herrschte aber ein Zustand, in dem jede an Orient interessierte Nation einen Machtgewinn einer anderen Nation auf ihre Kosten befürchten musste. (…) Die unmittelbare militärische Unterwerfung von Teilen der türkischen Erbmasse durch eine der Großmächte hätte einen Krieg gegen alle anderen Mächte bedeutet. Die in Afrika, Indien und Lateinamerika erprobte Form des direkten Kolonialismus mittels militärischer Herrschaft und unter der Fahne einer imperialistischen Nation kam im Falle des Orients nicht in Frage. Stattdessen griffen alle an der kolonialen Herrschaft über die asiatische Türkei interessierten Nationen zur Politik der ›pénétration pacifique‹«. [7] Also zur Programmatik einer wirtschaftlichen und friedlichen Durchdringung als imperialistische Strategie.

Brauns meint dazu: »Die ›friedliche Durchdringung‹ beinhaltete ein breites Reservoir indirekter Einflussnahme und Unterwanderung. Vom wirtschaftlichen Engagement über Militärhilfe, Kulturimperialismus und Religionspolitik bis hin zum diplomatischen Einfluss reichten die Mittel. (…) Mit der friedlichen Unterwanderung sollen politische, militärische, wirtschaftliche und kulturelle Positionen errungen werden, die genug Einfluss sichern, um bei einer erneuten kriegerischen Aufteilung des Gebietes schon ein sicheres Standbein zu besitzen«. [8] Die letzten 150 Jahre zeigen, wie meisterlich Deutschland diese Strategie in den Beziehungen mit der Türkei für sich nutzen konnte.

Doch zu Zeiten Bismarcks galt in Deutschland kein großes Interesse am Orient. Obwohl schon vor Bismarck einige deutsche Unternehmen im Osmanischen Reich tätig waren, hatte die deutsche Wirtschaft bis 1850 im Osmanischen Reich keinen wesentlichen Einfluss. Zwar hatte nach 1850 »die deutsche Industrie- und Handelsbourgeoisie, damals im Rahmen des Deutschen Zollvereins, das Osmanische Reich als Absatzgebiet für Exportgüter ins Auge gefasst und Krupp war seit 1860 im Waffengeschäft« (Brauns) sowie ein deutscher Vertreter im Düyûn-i Umûmiyye-i Osmaniyye, also in der multinationalen Finanzverwaltung, welche die Rückzahlung der osmanischen Staatsschulden sicherstellen sollte, dabei, aber die eigentliche deutsche Türkeipolitik begann erst mit dem Erwerb von Eisenbahnkonzessionen im Jahre 1888. Ein, von der Deutschen Bank geführtes Konsortium hatte sich diese Konzessionen gesichert.

Dazu zitiert Brauns eine Denkschrift der Handelspolitischen Abteilung des Auswärtigen Amtes vom 19. Juli 1894. Unter dem Titel »Sicherstellung der deutschen Interessen für den Fall der Lösung der Dardanellenfrage« schreibt das Auswärtige Amt folgendes: »Klein-Asien hat Wichtigkeit für uns als Absatzgebiet für die deutsche Industrie, als Unterkunftsstätte für werbende deutsche Kapitalien und als ein hochentwicklungsfähiges Bezugsgebiet für solche notwendigen Importartikel, die wir (wie Getreide, Baumwolle) jetzt aus Ländern beziehen, von denen uns unabhängig zu machen, früher oder später unseren Interessen sprechen dürfte… Nach der Lage der Verhältnisse ist gegenwärtig das kapitalistische Interesse bei weitem überwiegend«.

Auch die politischen Interessen waren gewichtig. Denn das deutsche Kapital war dabei, systematisch in einen Wirtschaftsraum einzudringen, dass von England und besonders von Frankreich beherrscht wurde. Obwohl Deutschland am 20. Dezember 1881 bei der Gründung der Düyûn-i Umûmiyye gerade mal mit einem Anteil von 4,7 Prozent an sechster Stelle unter den Gläubigerländern des Osmanischen Reiches stand, sollten 17 Jahre später, als Kaiser Wilhelm II. 1898 zum zweiten Mal die Türkei besuchte, die deutsch-osmanischen Beziehungen eine ungeheure Dynamik gewinnen.

Bagdad-Bahn als außenpolitisches Programm

Die Suche nach dem deutschen »Platz an der Sonne« wurde mit der Bagdad-Bahn, ein konfliktträchtiges Symbol deutscher Weltpolitik, quasi zum außenpolitischen Programm Deutschlands. Aber auch für das Osmanische Reich hatte die Bahn eine strategische Bedeutung. Das Osmanische Reich geschwächt und hatte den größten Teil seines auf dem Balkan gelegenen Territoriums verloren. Sultan Abdulhamid II. sah in der Eisenbahn ein leistungsfähiges, effizientes und für Truppentransporte ein schnelles Transportsystem, mit dem das Reich ökonomisch erschlossen und politisch stabilisiert werden konnte.

Da das Reich unter dem Diktat des internationalen Finanzkapitals stand, sah der Sultan bei einer deutschen Beteiligung an der Finanzierung eine gewisse Befreiung aus dieser Abhängigkeit. Zudem hatte das Osmanische Reich mit Preußen und dem Deutschen Reich positive Erfahrungen gemacht. Die Beschränkung des deutschen Imperialismus, ihren Einfluss vor allem in der Wirtschaft zu stärken und keine Gebietsgewinne anzustreben, war für die Entscheidung des Sultans sicherlich maßgebend.

Am Anfang war Deutschland, insbesondere die Deutsche Bank nicht von der Idee, in eine Eisenbahnlinie im Osmanischen Reich zu investieren, überzeugt. Doch der Rohstoffreichtum Mesopotamiens änderte dann die Ansichten – besonders, nach dem der Kaiser Wilhelm II. sich persönlich und nachdrücklich für dieses Projekt einsetzte. Neue Absatzmärkte für die deutsche Industrie, reiche Erdölvorkommen, der zu steigernde Einfluss Deutschlands und die Verdrängung Englands und Frankreich aus dieser Region waren die Gründe dafür. Langfristig war das deutsche Militär an einem Stützpunkt für die deutsche Handels- und Kriegsflotte am Persischen Golf interessiert.

Schon am 15. Februar 1893, als die Konzession für die Strecke Eskisehir – Konya der Anatolischen Eisenbahn vergeben wurde, sprach man von einer Verlängerung nach Bagdad. Am 29. Juli 1896 wurde die Zweigstrecke nach Konya in Betrieb genommen und 1899 die vorläufige Vereinbarung zwischen der Deutschen Bank und dem Osmanischen Reich über den Bau der Bagdadbahn von Konya nach Bagdad unterzeichnet. Am 5. März 1903 wurde die endgültige Konzession mit einer Laufzeit von 99 Jahren erteilt. In der im April 1903 gegründeten Sociéte Impériale de Chemin de fer de Bagdad hatte die Deutsche Bank eine Beteiligung von 40 Prozent. Das Projekt wurde zum größten Teil durch die Ausgabe türkischer Staatsanleihen finanziert, die die Deutsche Bank vertrieb. »Dazu kamen die Rechte zur Ausbeutung aller Mineralvorkommen in einem 20 km breiten Streifen zu beiden Seiten der Trasse sowie zum Hafenbau in Bagdad und Basra und Flußschiffahrtsrechte zur Unterstützung des Bahnbaus«. (Brauns)

Um die Hintergründe des Zusammenhangs von Bahnbau und imperialistischer Politik deutlich zu machen, möchte ich einiges aus der Arbeit von Nick Brauns zitieren: »Aber nicht nur in der inneren Entwicklung der Industrieländer, sondern gerade auch in der wirtschaftlichen Expansion dieser Nationen spielten die Eisenbahnen eine entscheidende Rolle. (…) Die Eisenbahnen sollten das Werkzeug imperialistischer Durchdringung zum Aufbau informeller Kolonialreiche werden. (…) Die herrschenden Eliten der semikolonialen Länder gehörten oft zu den Unterstützern des Bahnbaus«. Denn, »Sie konnten (…) ihre heimische Machtstellung ausbauen und Nutznießern der neuen Technologien werden. Die Herausbildung einer Kompradorenschicht wurde durch den Bahnbau begünstigt, der dazu diente, ihr Image als moderne, westlich orientierte Herrscher zu beweisen. (…) Auch der militärische Nutzen kam der herrschenden Klasse zugute, die durch die Bahn schnell Truppen zur Aufrechterhaltung der Ordnung in entlegene Landesteile transportieren konnten. (…) Durch die Bahnen wurden die bisherigen Produktions- und Wirtschaftsformen umgewälzt. Statt Subsistenzwirtschaft und lokalem Handel wurden diese Menschen nun den Strukturen des Weltmarktes ausgeliefert. (…) Der Bahnbau diente so dem Finanzkapital der Industrienationen zum massiven Kapitalexport in die abhängigen Länder. (…) Die europäischen Bahnbauten in der Türkei sind ein Paradebeispiels für den Aufbau informeller Kolonialstrukturen in einem unterentwickelten Land«.

England, Frankreich und Russland sahen, dass durch die Bagdadbahn die schnellste und wirtschaftlichste Verbindung zwischen Europa und Indien entstehen könnte. Die Bagdadbahn war eine Konkurrenz zu britischen und russischen Infrastrukturprojekte wie dem Sueskanal und russische Eisenbahnprojekte im Iran. So wurde die Bagdadbahn zu einem Brennpunkt der Orientpolitik der europäischen Großmächte. Manche sind der Auffassung, dass die Bagdadbahn einer der wichtigsten Gründe war, warum England, Frankreich und Russland sich annäherten.

In der Tat; obwohl der Bahnbau vor dem Ersten Weltkrieg aus verschiedenen Gründen, u. a. finanzielle und politische Schwierigkeiten, verzögert wurde, spielte sie während des Krieges für Deutschland eine kriegswichtige Rolle. Denn damit wollte sich das Deutsche Reich von den Ölimporten aus den USA unabhängig machen. Mögliche Seeblockaden hätten den Ausfall der Öllieferungen zur Folge, was kriegsentscheidend sein könnte. Aber auch für das Osmanische Reich überwogen die militärstrategischen Gründe, weil mit der Bahn die südliche Front am Sueskanal mit Truppen versorgt werden und damit die Bekämpfung der arabischen Aufstände erleichtert werden könnte.
Gleichzeitig hat die Eisenbahn 1915 im Zuge des armenischen Völkermords als Transportmittel für die systematische Deportation der armenischen Bevölkerung in die syrische Wüste gedient.

1918 war die Strecke zwischen Istanbul und Nusaybin sowie zwischen Bagdad und Samarra auf einer Länge von ca. 2.000 km fertig gestellt. Während der französischen und britischen Besatzungszeit übernahmen die französischen und britischen Verwaltungen die Bahn. Erst 1920 hat die kemalistische Regierung Teile der Strecke von der britischen Militärverwaltung übernommen. Nach dem I. Weltkrieg führte die Strecke über drei neue Staaten, die Türkei, Syrien und über Irak, wodurch einige Lücken entstanden. 1936 begannen Syrien und Irak die letzten Lücken zu schließen, so dass am 15. Juli 1940 die Bagdadbahn durchgehend befahrbar war. Zusammenfassend ist Nick Brauns zuzustimmen: »Die Bagdadbahnstrategie und das mit ihr verbundene Programm wirtschaftlicher, militärischer, politischer und kultureller Maßnahmen stellte in besonders signifikanter Weise ein imperialistisches Programm dar, dessen Methodik in Form des Neokolonialismus bis heute von allen Großmächten angewendet wird«.

Doch schauen wir wieder kurz zurück. Ich denke, dass es hier keine großen Erklärungen bedarf, wie das Osmanische Reich neben Deutschland in den Ersten Weltkrieg eintrat. Warum Deutschland an der Türkei ein großes Interesse hatte, beschreibt Rosa Luxemburg wie folgt: »Es ist nach alldem klar, dass im Interesse des deutschen Imperialismus die Stärkung der türkischen Staatsmacht liegt, soweit, dass ihr vorzeitiger Zerfall verhütet wird. Eine beschleunigte Liquidation der Türkei würde zu ihrer Verteilung unter England, Russland, Italien, Griechenland und anderen führen, womit für die großen Operationen des deutschen Kapitals die einzigartige Basis verschwinden müsste«. [9] Zu ähnlichen Schlüssen waren der Kaiser und die Reichsregierung schon vorher gekommen. Die Drohung eines großen europäischen Krieges vor den Augen, erläuterte der Kaiser 1913 persönlich der Militärmission für die Türkei, deren Aufgaben: »Germanisierung der türkischen Armee durch Führung und unmittelbare Kontrolle der Organisationstätigkeit des türkischen Kriegsministeriums; Aufmerksame Beobachtung und strenge Kontrolle der Politik anderer Mächte in der Türkei; Unterstützung und Entwicklung der türkischen Militärmacht in Kleinasien so weit, dass sie als Gegengewicht gegen die aggressiven Absichten Russlands dienen kann und die Behauptung der dominierenden deutschen Autorität und des Einflusses auf Fragen der Außenpolitik«. (aus: Brauns)

Aber auch die jungtürkische Führung hatte großes Interesse an einer Zusammenarbeit mit dem Deutschen Reich. Als größter Rüstungslieferant und Bündnispartner konnten die Jungtürken mit Deutschland an ihrer Seite, ihre Pläne umsetzen. Diese beschreibt Brauns so: »Um von der Niederlage im Balkankrieg und der wachsenden Unzufriedenheit der Bevölkerung des Osmanischen Reiches abzulenken, zielte das türkische Regime auf eine aggressivere, auf Eroberungen ausgerichtete Außenpolitik. Die Ideologie des Pan-Islamismus und des Pan-Turanismus verschmolzen zu einem spezifischen türkischen Expansionismus mit weitreichenden Eroberungszielen. (…) Die reaktionären Interessen Deutschlands und der Türkei ergänzten sich«.

Der armenische Völkermord und Deutschlands Mitschuld

Zu der unrühmlichen Geschichte der deutsch-osmanisch/türkischen Beziehungen gehört ohne Frage der Völkermord an den ArmenierInnen 1915. Der Historiker Wolfgang Gust ist der Auffassung, dass »das Osmanische Reich mit diesem barbarischen Schritt höchste Gefahr gelaufen« wäre »annektiert und aufgeteilt zu werden, hätte sie keinen potenten Bündnispartner« wie Deutschland. [10]

In der Tat, ohne das Mitwissen und Unterstützung Deutschlands wäre dieses Verbrechen gegen die Menschheit in diesem Umfang nicht zu verwirklichen gewesen. Die Reichsregierung wusste von Anfang an, was »weit hinten, in der Türkei« passierte. Während des Ersten Weltkrieges gingen alle Berichte des Auswärtigen Amtes an das »Große Hauptquartier«, dem der Kaiser als oberster Kriegsherr, der Reichskanzler, die Oberste Heeresleitung, viele weitere Stäbe und ein hoher Vertreter des Auswärtigen Amtes angehörten. Seit Frühjahr 1915 trafen von den deutschen Konsulaten in den östlichen Provinzen des Osmanischen Reiches und von der deutschen Botschaft in Istanbul zahlreiche Berichte ein, in denen die systematische Ausrottung des armenischen Volkes beschrieben wurde. Der deutschen Reichsregierung war von Anfang an klar, dass der Völkermord eine »zentral geplante, bürokratisch organisierte und durchdachte Tat war, bei der staatliche Organe und Teile der regierenden Partei Ittihat ve Terakki (Partei der Einheit und des Fortschritts) zusammengearbeitet haben« (Taner Akçam).

Doch das strategische Ziel, das Osmanische Reich zu einer Stütze für Deutschland zu machen und mit ihrer Hilfe England und Frankreich aus dem Nahen Osten hinauszudrängen, verdrängte diese Tatsachen. Als der deutsche Botschafter in seinem Bericht vom 7. Dezember 1915 besorgt schrieb, »Soll Einhalt geschehen, so sind schärfere Mittel erforderlich« antwortete Reichskanzler Bethmann-Hollweg ganz lapidar: »Unser einziges Ziel ist, die Türkei bis zum Ende des Krieges an unserer Seite zu halten, gleichgültig ob darüber Armenier zu Grunde gehen oder nicht«.

Diese Auffassung teilten viele Politiker. Der einzige Parlamentarier, der im Januar 1916 die Vernichtung der Armenier thematisierte, war Karl Liebknecht. In seiner Anfrage im Reichstag stellte er die Frage: »Ist dem Herrn Reichskanzler bekannt, dass während des jetzigen Krieges im verbündeten türkischen Reiche die armenische Bevölkerung zu Hunderttausenden aus ihren Wohnsitzen vertrieben und niedergemacht worden ist?«. Das Auswärtige Amt antwortet wie folgt: »Dem Reichskanzler ist bekannt, dass die Pforte (die türkische Regierung) vor einiger Zeit, durch aufrührerische Umtriebe unserer Gegner veranlasst, die armenische Bevölkerung bestimmter Gebietsteile des türkischen Reiches ausgesiedelt und ihr neue Wohnstätten angewiesen hat. Wegen gewisser Rückwirkungen dieser Maßnahmen findet zwischen der deutschen und der türkischen Regierung ein Gedankenaustausch statt. Nähere Einzelheiten können nicht mitgeteilt werden«. (Wolfgang Gust, 2009)

Die strategischen Interessen Deutschlands und die Ziele der Jungtürken, das Osmanische Reich in einen ethnisch gesäuberten Nationalstaat umzuwandeln und dabei durch Enteignung christlicher Minderheiten eine eigene nationale Bourgeoisie zu schaffen, waren die Grundlage des Völkermordes an der armenischen Bevölkerung. Die »strategische Imperative« deutscher Außenpolitik bestimmte das Handeln der Reichsregierung und ermöglichte den Jungtürken die Umsetzung des rassistischen Planes der Ausrottung des armenischen Volkes. (Ordnungshalber sollte hier nicht unerwähnt bleiben, dass der ganze Umfang der Mitschuld Deutschlands an dem Völkermord erst in den vergangenen Jahren ans Tageslicht gelangte, nachdem Wolfgang und Sigrid Gust in jahrelanger Arbeit die Dokumente des Auswärtigen Amtes gesichtet hatten. Dies und die kürzlich veröffentlichte Studie »Das Amt und die Vergangenheit« über die Beteiligung des Auswärtigen Amtes an der Vernichtung der europäischen Juden sind die Beweise, dass die Legende vom »sauberen diplomatischen Dienst« ein Mär ist.)

Doch weder die »Waffenbrüderschaft mit dem Osmanischen Reich«, noch die hingenommene Vernichtung von 1,5 Millionen ArmenierInnen sowie anderer Minderheiten half nicht: Deutschland und das Osmanische Reich wurden 1918 besiegt. Interessanter Weise machten auch die Siegermächte des Ersten Weltkrieges keine Anstalten die Verantwortlichen des Völkermordes zu bestrafen oder den Nachkommen der Ermordeten ihr Eigentum zurückzugeben. Selbst nach dem der armenische Völkermord als Argument für den Genozidbegriff im internationalen Recht als Verbrechen gegen die Menschheit bezeichnet wurde, geschah nichts.

Nach dem Ende des Ersten Weltkriegs schien es so, als ob die deutsch-türkische »Waffenbrüderschaft« beendet wurde. Die offizielle Geschichtsschreibung der Türkei weist immer wieder daraufhin. Mehr noch: damals wie heute wird Deutschland für die Niederlage des Osmanischen Reiches alleine verantwortlich gemacht – natürlich auch der Sultan selbst und einige der Regierungsmitglieder. Doch es waren keine anderen, als diejenigen Offiziere, die während des Weltkrieges für den Sultan die Truppen befehligten, wiederum diejenigen, die wie Phönix aus der Asche dem türkischen Nationalstaat vorstanden.

Nach dem Krieg war die Ausgangslage für beide Länder sehr unterschiedlich. Während die junge Türkische Republik mit dem Vertrag von Lausanne, die Folgen des Vertrags von Sèvres (1920) revidieren konnte, hatte Deutschland die schweren Auswirkungen des 1920 in Kraft getretenen Vertrags von Versailles zu schultern. Immense Reputationszahlungen, große territoriale Verluste und die Besetzung des Ruhrgebietes 1923 waren die Folgen. Zudem mussten in Deutschland die Revolutionen »abgewehrt« werden.

Doch innerhalb einer kurzen Zeit wurden die deutsch-türkischen Beziehungen wieder aufgenommen und intensiviert. Am 3. März 1924 wurde ein deutsch-türkischer Freundschaftsvertrag unterzeichnet. Dem folgte am 12. Januar 1927 das deutsch-türkische Handelsabkommen, so dass ab Mitte der 1920er Jahre bilaterale Strukturen wieder aufgebaut waren. Diese zielten zwar in erster Linie auf wirtschaftliche Kooperation, es wurde aber auch auf die »bewährte« militärische Zusammenarbeit weiter gesetzt. Wieder wurden deutsche Militärberater in der Türkei eingesetzt.

Die Legende vom nationalen Befreiungskrieg

Hier sollten wir einen kleinen Exkurs wagen. Allzu oft wird, auch in linken Kreisen, davon gesprochen, dass der »nationale Befreiungskrieg der Türkei an sich antiimperialistisch« wäre. Wie der türkische Politologe Fikret Baskaya m. E. zu Recht beschreibt, dass es keinen nationalen Befreiungskrieg gab, bin auch ich davon überzeugt, dass die Gründung der Türkischen Republik in einem engen Zusammenhang mit dem Putsch der Jungtürken von 1908 zu sehen ist und das Werden des türkischen Nationalstaates von imperialistischen Ländern hingenommen und Teilweise unterstützt wurde.

Der sog. nationale Befreiungskrieg war im Grunde genommen ein Krieg gegen die griechische Armee – weshalb Baskaya von einem »Bürgerkrieg« spricht. Der einzige Krieg, in die die Armee Mustafa Kemals gezogen ist, war der Krieg gegen die griechische Armee. Bei dem ersten und zweiten »Schlacht von Inönü« (10. Januar und 23. März 1921) und dem »Schlacht von Sakarya« am 23. August 1921 siegte die türkische Armee. Worauf sich dann Frankreich, England und Italien aus der Türkei zurückzogen und mit dem Vertrag von Ankara erklärten, dass sie keine Gebietsansprüche stellen. Ein Jahr später, am 30. August 1922 wurden dann weite Teile der griechischen Armee vernichtend geschlagen.

Nach 1919 hat die türkische Armee keine einzige Schlacht gegen die Besatzungsmächte England, Frankreich und Italien geführt. Zwar haben türkische Milizen in Maras, Antep und Urfa gegen die französischen Besatzer Aufstände geführt, aber ein regulärer Krieg zwischen der türkischen und französischen Armee gab es nicht. 1919 hatte Mustafa Kemal, Kâzım Karabekir beauftragt, einen Eroberungskrieg gegen die östlichen Gebiete zu führen. Die Städte Kars, Ardahan, Erzurum und Sivas waren unter der Kontrolle der armenischen Truppen. Die türkischen Truppen drängten die Armenier und führten die jungtürkische Vernichtungspolitik gegenüber der armenischen Bevölkerung fort. Bis 1920 wurden weitere zehntausende ArmenierInnen getötet und vertrieben. Erst als im März 1921 zwischen der Sowjetregierung und der Türkei der Moskauer Vertrag unterzeichnet wurde, haben am 23. Oktober 1921 die Sowjetrepubliken Armenien, Aserbaidschan und Georgien unter Moskauer Druck die neue Ostgrenze der Türkei akzeptiert.

Mit der Oktoberrevolution 1917 war den imperialistischen Mächten ein Bündnispartner abhanden gekommen. Wichtige Handelsrouten, der Sueskanal und die Ölfelder des Nahen Ostens waren unter ihrer Kontrolle. Auf dem Balkan hatten sich Nationalstaaten unabhängig gemacht, die an der Seite Englands, Frankreichs und später der USA standen. Deutschland war besiegt und in Anatolien hatte Mustafa Kemal seine Armee aufgestellt. Anfänglich unterhielt die Türkei enge Kontakte zur jungen Sowjetunion, die ihrerseits in einem Kampf mit den imperialistischen Mächten verwickelt war.

Unter diesen Umständen lag eine bürgerliche Republik, die die Meeresengen kontrolliert und westlich orientiert war, im Interesse Englands und Frankreich. Der Sieg der türkischen Armee über die Griechen ebnete dann den Weg nach Lausanne. Während eine weitergehende Annexion der Türkei ein schwer zu unterhaltendes Besatzungsregime erforderlich machte, der wegen der zu erwarteten kriegerischen Auseinandersetzungen mit der Armee Mustafa Kemals die Bindung von größeren militärischen Kapazitäten zur Folge hätte, war die Akzeptanz einer bürgerlichen Republik in der Türkei, die wirtschaftlich abhängig war und als neutrale Macht die Kontrolle über die Meeresengen in der Hand hielt, die einfachere Lösung. Zudem konnte mit der Gründung einer Türkischen Republik eine schützende Pufferzone gegen die Sowjetunion geschaffen und deren möglicher Einfluss in der Region noch im Keime erstickt werden.

Die Aussagen, dass »den ersten antiimperialistischen Krieg die Türken geführt« haben, »mit dem nationalen Kampf eine Nation aus dem Nichts entstanden« sei oder dass »der nationale Kampf Mustafa Kemals den unterdrückten Völker der Erde den Weg zu Befreiung gezeigt« habe, sind nichts anderes als Phrasen der offiziellen Geschichtsschreibung. Das Osmanische Reich war nie eine Kolonie, sondern ein souveräner Staat, der von den Verhandlungen in Mondros bis Lausanne immer am Tisch saß.

Auch vor dem Ersten Weltkrieg waren die Gegner des Sultans, nur »Oppositionelle im System«. Weder der I. Konstitutionalismus, der auf das Betreiben von Mithat Pasa erklärt wurde, noch der II. Konstitutionalismus von 1908 zielten auf eine Änderung des politischen Systems. 1908 hatten die Jungtürken, die militärisch-bürokratische Elite des Osmanischen Reichs geputscht. Sie schränkten zwar die Rechte des Sultans, haben aber bis 1913 ein diktatorisches Regime errichtet.

Als am 29. Oktober 1923 die Republik ausgerufen wurde, wurde nur der Name des Staates geändert. Die Republik war die Fortführung des jungtürkischen Putschs von 1908. Bis 1946 folgte dann die Einparteiendiktatur.

Nach 1923 haben sich auch die Produktions- und Eigentumsverhältnisse nicht wesentlich geändert. Im Gegenteil; die Klassenverhältnisse haben sich verfestigt. Die Macht im Staate war weiterhin in den Händen der militärisch-bürokratischen Eliten und der »nationalen Bourgeoisie«, die ihr Reichtum durch Enteignung der Griechen und Armeniern aufgebaut hatte. Neu waren jedoch die Thesen zur »Türkischen Geschichte« und »Türkischer Sprache«. Die nationalistisch-rassistische Staatsideologie, die Fortführung der ethnischen Säuberungen, der »Turkiisierungsprozess« sowie das errichtete militärisch-bürokratische Vormundschaftsregime wurden zu Stützpfeilern des türkischen Nationalstaates. Mit der Gründung der Republik Türkei begann eine neue, blutige Phase der anatolisch-mesopotamischen Tragödie, der bis heute andauert.

Das Dritte Reich und der Zweite Weltkrieg

Nach der Machtergreifung des Nationalsozialismus wurde in Deutschland wieder auf die »bewährte« Türkeipolitik gesetzt. Das faschistische Deutschland versuchte die wirtschaftlich schwache Türkische Republik in ihren Machtbereich einzubeziehen. Die Nationalsozialisten wollten, wie vor und während des Ersten Weltkrieges, England und Frankreich aus dem Nahen Osten herausdrängen. Im Rahmen der Kriegspläne sah man vor, die deutsche Rüstungsindustrie über den Balkan und die Türkei mit den Rohstoffen des Nahen Ostens zu versorgen. (Interessant ist hierbei, dass ein 1937 erstellter Plan zur Erdöl- und Rohstoffversorgung, mit den heute vorhandenen und geplanten Lieferrouten wie Nabucco Pipeline nahezu identisch ist.)

Das nationalsozialistische Regime schloss 1933 ein Abkommen mit der Türkei. So konnte das faschistische Deutschland sich in den 1930er Jahren zum größten Handelspartner der Türkei entwickeln. Die von den Nationalsozialisten immer wieder beschworene »Waffenbrüderschaft« wurde auch auf die wirtschaftlichen Beziehungen transportiert. »Aus der Tatsache, dass die Türkei in den Jahren 1933 bis 1938 weitgehend von Deutschland als ihrem Hauptrohstoffabnehmer und –lieferant von Industrieausrüstungen abhängig geworden war, machten z.B. die ›Orient-Nachrichten‹ eine deutsch-türkische ›Wirtschaftskameradschaft‹«. [11]

Doch die machtpolitischen Interessen der Nationalsozialisten und ihre massiv vorgetragene »Lebensraumideologie« machten das deutsch-türkische Verhältnis auf der politischen Ebene höchst fragil und anfällig für Störungen. Obwohl die Propaganda der Nationalsozialisten die Parallelen zwischen dem Kemalismus, Nationalsozialismus und Faschismus betonten und so die Türkei als natürlichen Bündnispartner ansehen wollten, zeigte sich die türkische Regierung sehr zurückhaltend.

Schon vor dem Beginn des Zweiten Weltkriegs waren die Beziehungen unterkühlt. Die türkischen Interessen richteten sich auf die Wahrung strikter Neutralität und die Nichtverwicklung in Kriegshandlungen. Das Angebot, an der Seite der Achsenmächte in den Krieg zu ziehen, wurde abgelehnt. Nicht weil die türkischen Eliten an einen Sieg Deutschlands keinen Glauben schenkten, sondern weil die Konsolidierung der Staatsmacht im Inneren und die Bekämpfung besonders der kurdischen Aufstände Vorrang hatten. Im Frühjahr 1939 erfolgte die Annäherung der Türkei an England und Frankreich. Nach dem Überfall der Wehrmacht auf Polen wurde dann am 19. Oktober 1939 ein englisch-französisch-türkischer Beistandpakt geschlossen.

Aber schon die ersten militärischen Erfolge der Wehrmacht verstärkten den Einfluss des faschistischen Deutschlands in der Türkei. Im April 1940 wurde ein neuer deutsch-türkischer Handelsvertrag unterzeichnet, dem am 18. Juni 1941 der deutsch-türkische Freundschafts- und Nichtangriffspakt folgte. Beide Regierungen verband die tiefe Feindschaft gegen die Sowjetunion. So wurde Deutschland zwischen 1941 und 1944 wieder der größte Handelspartner der Türkei.

Die Zusammenarbeit fand in der Türkei einen fruchtbaren Boden. Weite Teile der türkischen Bourgeoisie und der kemalistischen Eliten sangen Loblieder auf die deutsch-türkische Freundschaft. Die faschistische Propaganda in der Türkei (hier möchte ich die Arbeit von Johannes Glasneck wärmstens empfehlen) hatte auch zur Folge, dass der offene Antisemitismus eine Regierungspolitik wurde. 1941 führte die Regierung unter Sükrü Saracoglu eine Vermögenssteuer ein, der vor allem von den jüdischen, griechischen und armenischen Staatsangehörigen zu entrichten war. Der Staatsapparat, staatliche Betriebe und Medien wurden von Juden »gesäubert«. Wer die festgesetzte Vermögenssteuer binnen 30 Tagen nicht entrichten konnte, wurde zur Zwangsarbeit nach Askale deportiert. Zwischen 1942 und 1944 drang der faschistische Einfluss in alle Bereiche des Staates ein.

Mit der Gegenoffensive der Alliierten jedoch änderte die Türkei 1944 ihre Politik. Im April 1944 sah sich die türkische Regierung gezwungen, die für die deutsche Rüstungs- und Kriegsindustrie lebenswichtigen Chromlieferungen einzustellen und brach im August 1944 auch alle diplomatischen Beziehungen zu Deutschland ab. Symbolisch erfolgte dann am 23. Februar 1945 die Kriegserklärung der Türkei.

Die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg

Beide Länder fanden sich 1945 auf derselben Seite wieder – als Gegner der Sowjetunion, unterstützt von den USA und bald auch als Partner der NATO. Nachdem die Türkei am 18. Februar 1952 den Nordatlantischen Pakt ratifizierte, wurden die diplomatischen Beziehungen zwischen der BRD und der Türkei aufgenommen. In der Ära des Bundeskanzlers Konrad Adenauer begann eine intensive politische, wirtschaftliche und militärische Partnerschaft, die bis heute andauert.

»Unsere gemeinsame Zugehörigkeit in der Gemeinschaft der freien Welt bildet auch den Hintergrund für eine fruchtbare Entwicklung unserer zweiseitigen Beziehungen« - diese Worte Adenauers aus dem Jahr 1954 brachten die neuen deutsch-türkischen Beziehungen auf den Punkt. Als Frontstaaten der NATO hatten beide Länder eine Beziehung entwickelt, die für die deutsche Außenpolitik einzigartig ist. Man pries beiderseitig die »freundschaftlichen Beziehungen«, mit der die deutsch-türkische Schicksals- und Interessengemeinschaft gekennzeichnet wurden. Die traditionelle »Freundschaft« hatte auch die Jahre des Zweiten Weltkrieges überdauert. Die faschistische Propaganda der Nationalsozialisten trug nun dazu bei, dass die Anhänger einer engeren Kooperation mit Deutschland innerhalb des Staatsapparates großen Einfluss ausüben konnten.

Ab Mitte 1954 wurde die BRD zum Unterstützer und wichtigster Anwalt türkischer Interessen. Die Wahrung der türkischen Interessen war im Interesse der BRD. Denn der Beitritt der Türkei hatte für die NATO große strategische Vorteile gebracht und eröffnete für die BRD neue Möglichkeiten für ihre weitreichenden Interessen. Die nachfolgenden Jahre haben gezeigt, wie sehr sich die deutsch-türkische Freundschaft für beide Länder lohnte: Deutschland konnte mit seinem strategischen Partner Türkei seinem Ziel, wieder eine Weltmacht zu werden – diesmal unter dem Dach eines geeinten Europas, näher kommen und die Türkei profitierte in allen Bereichen ihrer Nationalstaatswerdung von dieser Partnerschaft.

Wenn heute beide Staaten eine solche enge Beziehung unterhalten, dann ist das in erster Linie der »strategischen Imperative« deutscher Außenpolitik zu verdanken. Solange diese Konstante der deutsch-türkischen Beziehungen aufrecht erhalten wird, solange werden Hoffnungen, Deutschland könne zur friedlichen und demokratischen Lösung der kurdischen Frage einen Beitrag leisten, ein Trugschluss bleiben. Die Entscheidungsträger in Deutschland und der Türkei haben kein Interesse daran, die kurdische Bevölkerung und andere unterdrückte Gruppen in die Freiheit zu entlassen. Freiheit und Demokratisierung in der Türkei wird nur dann verwirklicht werden können, wenn es das eigene Werk der unterdrückten Völkern sein wird. Das ist, so glaube ich, die einzige Lehre, die aus der 150 Jährigen Geschichte de deutsch-türkischen Beziehungen gezogen werden kann.

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[1] Konrad-Adenauer-Stiftung, Dokumente der Tagung »Deutsch-Türkischer Sicherheitsdialog zur neuen NATO-Strategie«, Ankara März 2009, S. 26 ff
[2] Nick Brauns, Tödliche Waffenbrüderschaft – Die deutsche Türkeipolitik und die Kurden
[3] Konrad-Adenauer-Stiftung, Dokumente der Tagung »Deutsch-Türkischer Sicherheitsdialog zur neuen NATO-Strategie«, Ankara März 2009, S. 26 ff
[4] ebd.
[5] ebd.
[6] Nick Brauns, Die deutsch-türkischen Beziehungen vor dem Ersten Weltkrieg 1914, S. 4
[7] ebd. S. 5
[8] ebd. S. 6
[9] Rosa Luxemburg, Die Krise der Sozialdemokratie (Junius Broschüre), in: Dies.: Ausgewählte politische Schriften in drei Bänden Bd.3, Frankfurt a. M. 1971, S.39ff.
[10] Wolfgang Gust, Referat anlässlich des Jahrestages des armenischen Völkermords im April 2009
[11] Johannes Glasneck, Deutsch-faschistische Propaganda in der Türkei, Halle 1966, S. 7