Sonntag, 12. Juni 2011

Parlamentswahlen in der Türkei – Wahlabendanalyse:

AKP gewinnt – Linksbündnis triumphiert!
13. Juni 2011, 1:30 Uhr

Die Würfel sind gefallen – die Voraussagen der Umfrageinstitute sind zum größten Teil eingetroffen. Die AKP (Partei der Gerechtigkeit und Entwicklung) hat erneut die Wahlen gewonnen, aber ihr Wahlziel, eine verfassunggebende Zweidrittel-Mehrheit zu erhalten, nicht erreicht. Die CHP (Republikanische Volkspartei) konnte zwar ihr Stimmenanteil erhöhen, gilt aber als Wahlverliererin. Die ultranationalistische MHP (Partei der nationalistischen Bewegung) ist, trotz Verluste, im Parlament vertreten. Triumphieren konnte aber das von der prokurdischen BDP (Partei des Friedens und der Demokratie) und verschiedenen linken und sozialistischen Parteien gebildete Linksbündnis, der »Block« (Block der Arbeit, des Friedens und der Freiheit). Die Wahlbeteiligung war mit rund 87 Prozent sehr hoch.

Die Ergebnisse im Einzelnen:

Partei / Stimmen / In Prozent / Abgeordnetenzahl
2011 / 2007 / 2011 / 2007 / 2011 / 2007
AKP 21.441.562(2011) / 16.318.368 (2007) / 49,91 (2011) / 46,47(2007) / 326 (2011) / 341(2007)
CHP 11.131.067 / 7.316.242 / 25,91 / 20,84 / 135 / 112
MHP 5.579.345 / 5.005.587 / 12,99 / 14,26 / 53 / 71
Linksblock 2.859.233 / 1.822.253 / 6,66 / 5,19 / 36 / 26*
TKP 60.382 / 80.092 / 0,14 / 0,25 / 0 / 0
EMEP 31.581 / 26.556 / 0,07 / 0,08 / 0 / 0
ÖDP Nicht teilg. / 52.195 / - / 0,15 / 0 / 0
*) 2007 waren unter den unabhängigen Abgeordneten 5, die keine Abgeordnete der prokurdischen DTP (BDP) waren.

Die Wahlen fanden in einer polarisierten Gesellschaft und unter undemokratischen Verhältnissen statt. Vor und während den Wahlen wurden oppositionelle Kräfte, insbesondere die AnhängerInnen des Linksblocks, unter Druck gesetzt. Hunderte WahlhelferInnen des Linksblocks wurden verhaftet. Aus den kurdischen Gebieten werden massive Einschüchterungsversuche gemeldet. Rund 150 internationale WahlbeobachterInnen haben zahlreiche Missbrauchsfälle und Wahlfälschungsversuche notiert. Am Wahlmorgen wurden in einigen Städten zahlreiche Stimmzettel, auf denen die AKP angekreuzt (abgestempelt) war, gefunden. Kurz nach den Wahlen jedoch fand man wieder in verschiedenen Städten halbverbrannte Stimmzettel mit Stimmen für den Linksblock. In einigen Wahllokalen wurden mehr Stimmen als eingetragene WählerInnen festgestellt. In den kurdischen Gebieten kam es zu gehäuften Stromausfällen. Die allererste Feststellung des Wahlabends lautet daher: Diese Wahlen waren keine demokratischen Wahlen.

Erdogan hat gewonnen, aber…

Erdogans AKP hat zum dritten Mal die Parlamentswahlen gewonnen. Aber dieser Sieg ist de facto ein Pyrrhussieg. Obwohl die AKP von nahezu jeden zweiten Wahlberechtigten gewählt wurde, hat sie weniger Sitze als in 2007. Die wichtigsten Ziele, mit 367 Abgeordneten von 550 eine verfassungsgebende Zweidrittel-Mehrheit zu erlangen, die CHP zurückzudrängen und die MHP unter die Wahlhürde zu drücken, konnten nicht erreicht werden. Ein von Erdogan favorisiertes mögliches Präsidialsystem ist nicht mehr möglich.

Dennoch; die AKP hat sich endgültig als Partei der transformierten Staatsideologie bewiesen und spiegelt die mehrheitlich konservativ-nationalistische Stimmung in der türkischen Gesellschaft wieder. Laut Nuray Mert, einer renommierten Journalistin, waren diese Wahlen »ein Referendum der AKP als neue Staatspartei« und zeigen, dass »die AKP erfolgreich die Traditionen des früheren autoritären Regimes erfolgreich mit ihrer neoliberal-konservativ/nationalistischen Politik zusammenbringen« konnte.

In der Tat, die AKP konnte das alte militärisch-bürokratische Vormundschaftsregime transformieren und ein neues Bündnis mit den militärischen Machthabern, auf der Grundlage von imperialen Visionen aufbauen. Die Strategie Erdogans, mit nationalistischer Rhetorik neue WählerInnenschichten zu gewinnen, ist aufgegangen und Erdogan ist sich diesem Erfolg bewusst. Insofern ist die Fortführung einer nationalistischen Politik durchaus zu erwarten.

Vor den Wahlen erwartete man mit Spannung die »Balkonrede« des Ministerpräsidenten am Wahlabend. Zeitgleich mit seinem Auftritt am Balkon der AKP-Parteizentrale in Ankara, begannen die Angriffe der Polizei in den kurdischen Städten auf die feiernden AnhängerInnen des Linksbündnisses. In mehreren Städten kam es zu Auseinandersetzungen, zahlreiche Menschen wurden durch Polizeiübergriffe verletzt. In Sirnak wurde eine Handgranate in die Menge geworfen und in Diyarbakir wurde die BDP-Stadtzentrale mit Gasbomben der Polizei heftig attackiert.

Die »Balkonrede« Erdogans wurde anschließend von den meisten JournalistInnen im Fernsehen als »enttäuschend« bezeichnet. Obwohl Erdogan mehrfach betont hat, dass die neue Regierung »die Regierung des ganzen Volkes sein« werde und sie »gemeinsam mit der Opposition, den NGOs, den unterschiedlichen Kräften der Zivilgesellschaft und den Intellektuellen über eine neue Verfassung diskutieren« werden, gab er nicht explizit die Signale, die von der kurdischen Bewegung erwartet wurden. Prof. Dr. Erol Katircioglu bewertete seine Rede als »eine Rede eines Autokraten, dessen Paternalismus überbetont wird«. Bezeichnend war auch sein Gruß »an unsere nationalen Verwandten und Geschwister in der Region, in Bagdat, Baku, Damaskus, Kabul, Sarajewo, Teheran und den Turkstaaten Mittelasiens«. Die FernsehjournalistInnen bewerteten diese Aussage als »eindeutige imperiale Ausrichtung der zukünftigen AKP-Politik«.

Die Tatsache, dass die AKP nur 326 Abgeordnete im nächsten Parlament haben wird, wird wahrscheinlich dazu führen, dass Erdogan der unsäglichen türkischen Tradition des Abgeordnetentransfers setzen und 5 bis 6 Abgeordnete aus den anderen Parteien abzuwerben versuchen wird. Somit könnte die AKP die 330-Grenze für einen Verfassungsvorschlag an ein Referendum erreichen. Mittelfristig gehen die meisten JournalistInnen davon aus, dass Erdogan wahrscheinlich 2012 für das Amt des Staatspräsidenten kandidieren wolle. Vorher wird erwartet, dass die Befugnisse des Staatspräsidenten erweitert werden sollen.

Die Oppositionsparteien CHP und MHP

Beide Parteien können als eindeutige Wahlverliererinnen bezeichnet werden. Es zeigte sich, dass die »Enthüllungskassetten über führende MHP-Kader, der Partei geschadet haben. Aber, die Stimmen, welche die MHP an die AKP verloren hat, konnte sie durch die WählerInnenwanderung der von der CHP enttäuschten nationalistischen CHP-WählerInnen kompensieren. Zugleich wurde bestätigt, dass die MHP über einen WählerInnen-Sockel verfügt, mit dessen Hilfe sie die Wahlhürde immer wieder überwinden kann. Doch die MHP wird im nächsten Parlament kaum eine wichtige Rolle spielen können.

Demgegenüber hat die CHP trotz ihrer sozialen Rhetorik ihr Ziel, die 30-Prozentmarke zu durchbrechen, nicht erreichen können. Obwohl sich die Zahl der künftigen CHP-Abgeordneten erhöht hat, herrschte in der CHP-Parteizentrale Katerstimmung. Die Aussage des CHP-Vorsitzenden Kemal Kilicdaroglu, dass »die CHP die einzige Partei ist, die gewonnen hat« wurde sogar von den CHP-nahen JournalistInnen belächelt. Kilicdaroglu versuchte die CHP-AnhängerInnen mit der Aussage, dass »die CHP in 4 Jahren die Regierung stellen werde« zu motivieren, konnte aber die schlechte Stimmung nicht auflösen. In den Fernsehkommentaren wurde darauf hingewiesen, dass in der CHP demnächst Machtkämpfe beginnen werden, da die Ergebnisse als unbefriedigend gesehen werden. Möglich ist aber auch, dass die CHP versuchen könnte, in dem wahrscheinlich gewordenen Verfassungsänderungsprozess sich als Partner der AKP anzudienen. Ob jedoch die AKP, die CHP als solchen ansehen bzw. auf sie angewiesen sein wird, ist noch offen.

Die neue Hoffnung: Das Linksbündnis

Trotz allen Repressalien, der Inhaftierung von über 3.000 PolitikerInnen / BürgermeisterInnen und den Unmöglichkeiten des Wahlgesetzes konnte das Linksbündnis einen großen Sieg erringen. Die Ergebnisse des Blocks in den kurdischen Gebieten belegen, dass die AKP das Kredit der kurdischen WählerInnen verspielt hat. In fast allen kurdischen Wahlbezirken ist das Linksbündnis die eindeutige Siegerin. Vor den Wahlen wurde spekuliert, dass das Bündnis zwischen 25 und 30 Abgeordneten stellen würde. Mit inzwischen 36 Abgeordneten haben sie diese Voraussagen übertroffen. 2007 war die prokurdische DTP (nach dessen Verbot BDP) mit 20 Abgeordneten im Parlament vertreten.

Während in Istanbul alle 3 KandidatInnen gewählt wurden, hat das Bündnis auch ihre absoluten Zahlen erhöhen können. So hat z.B. Levent Tüzel, Vorsitzender der sozialistischen EMEP (Partei der Arbeit) mit 136.000 Stimmen einen landesweiten Rekord gebrochen. In Diyarbakir konnte sie ihr Stimmenanteil von 47 auf 62 Prozent (6 Abgeordnete), in Batman von 39 auf 51 Prozent (2 Abgeordnete), in Mardin von 39 auf 62 Prozent (3 Abgeordnete) in Sirnak von 52 auf 73 Prozent (3 Abgeordnete) und in Hakkari sogar von 56 auf 82 Prozent (3 Abgeordnete) erhöhen. In den übrigen kurdischen Städten ist eine ähnliche Entwicklung zu sehen. Auch in einigen südlichen Küstenstädten konnten sie Siege erringen. So wurde in Mersin Ertugrul Kürkcü, der bekannte Sozialistenführer gewählt und in Adana, der ehemalige Politiker Murat Bozlak. Das Linksbündnis konnte auch mit Serafettin Elci, einem früheren Minister und Altan Tan zwei Persönlichkeiten aus den islamischen Kreisen und mit Erol Dora, einem Aramäer, den ersten Christen nach 1960 ins Parlament schicken.

Der Sieg des Linksbündnisses wird mit dem Einzug von 15 SozialistInnen in den 1960er Jahren verglichen. Man erwartet eine ähnliche Dynamik wie damals, als die TIP (Türkische Arbeiterpartei) ins Parlament einzog und die Arbeiter- und Studentenbewegung einen ungeheuren Aufschwung bekam. In den kurdischen Medien, aber auch in den wenigen linken Fernsehsendern wurde den ganzen Abend über die Möglichkeit, eine neue vereinigte Partei zu gründen, diskutiert. Doch gleichzeitig setzt man auf die Abgeordneten des Linksbündnisses derart Hoffnungen, die zu hohen Erwartungen führen. Einige Kommentatoren, u.a. der renommierte Meinungsforscher Tarhan Erdem erwartet von den linken und kurdischen Abgeordneten eine Politik der Annäherung an die AKP, Zwecks einer neuen Verfassung. Ein erwarteter Dialog wird jedoch von der AKP abhängen und dies scheint heute Abend und womöglich in den nächsten Monaten unwahrscheinlich zu sein.

Dennoch, das Linksbündnis könnte in der parlamentarischen Arbeit zum Zünglein an der Waage werden und somit auch der Motor eines echten Versuches der Demokratisierung. Zwar hat das Linksbündnis ein großen Anteil daran, dass die AKP ihre Ziele nicht erreichen konnte und dafür den offenen Zorn der AKP auf sich gezogen, aber wenn die AKP eine neue Verfassung installieren möchte, wird sie auf die Abgeordneten des Linksbündnisses angewiesen sein. Denn sie werden die einzige Kraft im Parlament sein, die ernsthaft an einer Demokratisierung interessiert sind und auch die Möglichkeit haben, auf die kurdische Bewegung Einfluss auszuüben.

Unter den gewählten KandidatInnen des Linksbündnisses sind 6 noch inhaftiert, sie wurden also aus dem Gefängnis heraus gewählt. Ferner sind 11 von ihnen Frauen. Das Linksbündnis ist zugleich eine Koalition der kurdischen Kräfte. Wäre das Bündnis eine Partei, wären die Stimmenanteile doppelt so hoch, da für die Wahl von unabhängigen KandidatInnen andere Vorschriften gelten, als für Parteien. Das Bündnis hätte als Partei wahrscheinlich doppelt so viele Abgeordnete wie jetzt. Die Tatsache, dass in den sämtlichen kurdischen Städten nahezu die gesamte Bevölkerung bis tief in die nächtlichen Stunden auf den Beinen war und wahrscheinlich auch Hunderttausende am nächsten Tag an den aufgerufenen Demonstrationen teilnehmen werden, zeigt, dass das Linksbündnis eine echte Chance für die Befriedung des kurdisch-türkischen Konfliktes darstellt. Das Linksbündnis hat mit ihrem Erfolg nun endlich die Wahlhürde von 10 Prozent ad absurdum geführt.

Wie weiter?


Die Parlamentswahlen markieren einen historischen Umbruch in der jüngsten Geschichte der Türkei. Nun steht es fest, dass es ein Zurück in die Vergangenheit ausgeschlossen ist und die Türkei wahrhaftig vor einer schicksalhaften Wegbiegung steht. Entweder wird man den politischen Willen zeigen, den seit 30 Jahren dauernden Krieg zu beenden oder den unheimlichen Weg des »Weiter so« zu gehen. Die kurdische Bevölkerung hat die kurdische Bewegung zu einer echten Volksbewegung verwandelt und gezeigt, dass die Vernichtung der PKK, nur durch ein erneutes Genozid in Anatolien / Mesopotamien möglich ist.

Noch steht es nicht fest, wie sich die neue Staatspartei und die Entscheidungsträger entscheiden werden. Am 15. Juni läuft das Ultimatum des Kurdenführers Abdullah Öcalan aus. Jetzt erwartet man mit großer Spannung sein Gespräch mit seinen Anwälten. Der Erfolg des Linksbündnisses, an dessen Zustandekommen Öcalan einen großen Anteil hat, hat bei den Verhandlungen Öcalans mit dem Staat sein Rücken gestärkt. Doch, ob die türkischen Machthaber auf Öcalan zugehen werden, werden wir in den nächsten Tagen sehen. Die Tatsache, dass die türkische Armee an der irakisch-türkischen Grenze Armeeeinheiten auf Stellung gebracht und am Wahlabend die Polizeikräfte auf die feiernde Bevölkerung los gelassen hat, verheißt nichts Gutes. Insofern ist eine abschließende Analyse zu diesem Zeitpunkt noch nicht möglich. Die nächsten Tage, vielleicht auch einige Wochen scheinen spannend zu werden. Hoffen wir, dass der überwältigende Sieg des Linksbündnisses dafür Sorge trägt, dass bei den türkischen Entscheidungsträgern die Vernünftigen die Oberhand gewinnen.

Eine ausführliche Wahlanalyse kommt dann am Freitag, den 17. Juni 2011.