Freitag, 12. August 2011

Die Konsolidierung des Regimes

Über den Machtkampf der türkischen Eliten

Die Nachricht schlug wie eine Bombe ein: der Oberbefehlshaber der türkischen Streitkräfte und die kommandierenden Generäle des Heeres, der Marine und der Luftwaffe waren zurückgetreten. In den westlichen Medien reagierte man darauf unterschiedlich. Während ein Teil der Kommentatoren »neue Hoffnungen für die türkische Demokratie« aufkeimen sahen, sprachen meist konservative Stimmen von der Gefahr »einer weiteren Islamisierung des Landes«.

Ohne Zweifel; es fand ein historischer Umbruch statt. Auch wenn die Generäle nur noch einige Wochen vor ihrer Pensionierung standen, wurde ihr Rücktritt als Ausdruck ihrer Niederlage gesehen. Doch, ist es tatsächlich so, dass mit ihnen »die kemalistischen Garanten für die Westbindung der Türkei« abhanden gekommen sind? Oder ist wirklich ein Weg für die Demokratisierung eröffnet worden, wie uns die regierungsnahen Liberale und Medien es weißmachen wollen? Was ist nun: wird die Türkei demokratischer oder islamistischer?

Die Antwort ist relativ einfach: Weder noch! Die Türkei wird nicht islamistischer, weil in erster Linie die AKP zum Islam ein instrumentelles Verhältnis hat. Islamische Rhetorik und die mediengerecht zur Schau gestellt islamische (!) Lebensweise der AKP-Eliten dienen zur Machterhaltung. Es sind Instrumente ihrer erfolgreichen Strategie, den Kapitalismus mit islamischen Referenzen zu legitimieren. Von 2002 bis heute haben es die AKP-Ideologehttp://www.blogger.com/img/blank.gifn geschafft, dass die neoliberale Wirtschaftspolitik und die Militarisierung der Außenpolitik von der traditionell nationalistisch-konservativen sunnitischen Mehrheit ohne Widerspruch als Staatsräson eines muslimischen Landes akzeptiert wurden. (Siehe auch: http://murat-cakir.blogspot.com/2011/07/von-der-akp-hegemonie-zur-akp-diktatur.html) Mehr noch: die türkische Mehrheitsgesellschaft akzeptiert inzwischen die Unterstützung der Kriege des Westens in den islamischen Ländern als Notwendigkeit der türkischen Außenpolitik.

Der Erfolg der AKP-Strategie liegt u. a. darin, dass zum einen die islamische Rhetorik zur alltäglichen Politiksprache gemacht wurde und zum anderen die private Kapitalakkumulation staatlich gefördert wird. Während beispielsweise mit der aggressiven Israelkritik die antiisraelischen und antisemitischen Grundhaltungen in der türkischen Gesellschaft bedient und diese zur Machterhaltung instrumentalisiert werden, bildet die Israelkritik andererseits die wichtigste Grundlage für die Anwerbung vom ausländischen Kapital aus den arabischen Ländern. Die hauptsächlich auf Konsumtion und Immobilienrenditen basierende türkische Wirtschaft benötigt ständig frisches Kapital. Und die AKP ist derzeit die einzige politische Kraft, die für einen steten Zufluss von Petro-Dollars sorgen kann.

Auf der anderen Seite wird der gemäßigte Staatsislam immer mehr zum Herrschaftsinstrument der AKP. Die neoliberalen Konvertiten kontrollieren über die Anstalt für Religionsangelegenheiten und den dort angestellten hunderttausenden Imamen die Verbreitung und Propagierung ihres Religionsverständnisses. Dieses Verständnis von der Staatsreligion sieht die private Kapitalakkumulation als anstrebenswerte religiöse Tat, suggeriert die Akzeptanz von Armut als Prüfung für das Jenseits, predigt die Unterwürfigkeit vor dem Arbeitgeber als ethische Pflicht eines jeden Muslims und propagiert ein paternalistisches Staatsverständnis. Die islamische Rhetorik hat zudem einen weiteren Vorteil: durch die Integration von radikalen Islamisten und deren Beteiligung an staatlich geförderter Kapitalakkumulation werden radikale islamistische Forderungen »verwässert« und verlieren an Ausstrahlungskraft. Daher kann zu Recht behauptet werden, dass eine Gefahr einer Islamisierung nicht vorhanden ist. Es ist richtig, die AKP ist fundamentalistisch – aber fundamentalistisch Neoliberal.

Neoosmanischer Imperialismus statt Demokratie

Der »türkische Islam« ist längst zu einem Synonym für ein autoritäres Gesellschaftssystem und eine autoritäre Staatsführung geworden. Die AKP-Regierung hat die Gewährung von demokratischen Rechten zu regierungsamtlichen Zugeständnissen degradiert, die jederzeit nach Bedarf zurückgenommen werden können. Neben den Medien wurde auch die Justiz mit zahlreichen Gesetzesveränderungen gleichgeschaltet. Die AKP ist dabei, ihre Hegemonie zur Errichtung eines autoritären Regimes zu nutzen.

Der Rücktritt der Generalität markiert genau diesen Umbruch. Es ist zwar richtig, dass damit die antidemokratische Autonomie der Armeeführung beschnitten wurde, aber die Demokratisierung ist auf der Strecke geblieben. In diesem Machtkampf konnte die AKP auf die Unterstützung der USA setzen und gewann. Die USA haben sich offen auf die Seite der AKP gestellt und die Armeeführung auf ihre neue Rolle gedrängt.

Dennoch; es ist keine Systemveränderung. Das Regime hat die AKP assimiliert und dadurch sich konsolidiert. Die AKP wurde zur neuen Staatspartei und damit auch zur Trägerin der rassistischen Staatsideologie. Die kemalistischen Eliten, die an der starren Nationalstaatlichkeit festhielten und somit versäumten, den Erfordernissen des Umbaus des Nahen Ostens zu entsprechen, mussten den Platz räumen.

Durch die gesellschaftliche Unterstützung hat der neue »starke Führer der Nation«, Premier Recep Tayyip Erdogan mit seiner Regierung die Möglichkeit, die notwendige Transformation der türkischen Streitkräfte zu vervollständigen. In diesem Zusammenhang muss jedoch darauf hingewiesen werden, dass es zwischen der Armee und der AKP in der Außen- und Verteidigungspolitik einen engen Schulterschluss gibt – ebenso in ihrem Vorgehen gegen die kurdische Bewegung. Imperiale Gelüste und Regionalmachtphantasien einen die Neoosmanen und die kemalistische Generalität.

Im Übrigen; auch wenn jetzt, nach den Rücktritten, die Armeeführung der zivilen (!) Regierung stärker unterstellt wurde, so bleiben ihre wirtschaftlichen und rechtlichen Privilegien unangetastet. Die Armeeführung verfügt weiterhin über den rentabelsten Privatkonzern, der OYAK (Siehe: http://murat-cakir.blogspot.com/2010/07/die-eu-die-turkei-und-die-macht-der.html) und über den militärisch-industriellen Komplex.

Die neue Rolle der Armee sieht die Streitkräfte im Außeneinsatz vor. Anders als in Deutschland, wo über den Einsatz der Bundeswehr im Innern debattiert wird, setzt die AKP auf einen rigiden Polizeistaat. Mit der Modernisierung und Paramilitarisierung der Polizeikräfte entsteht eine starke bewaffnete Kraft als Schutzmacht des Regimes, dessen prioritäre Aufgabe die Aufstandsbekämpfung sein soll. Da die Regierung gleichzeitig die Gendarmerie von der Verantwortung der Armeeführung nehmen und dem Innenminister unterstellen will, wird somit eine Schutzmacht entstehen, die ggf. auch gegen putschfreudige Militärs eingesetzt werden kann.

Diese Entwicklungen sind jedoch keineswegs ein Abkehr von der Westbindung. Im Gegenteil: die Bindung an den Westen, besonders an die USA und die NATO ist fester denn je. Im Unterschied zu den vergangenen Jahren sind die türkischen Entscheidungsträger selbstbewusster geworden. Die Kooptierung in die globalen Strategien durch die G 20 – Mitgliedschaft, die wichtiger gewordene geostrategische Lage und der rasante Wirtschaftswachstum geben allen Anlass dafür.

Doch dieses Selbstbewusstsein hat einen Haken: die nach Freiheiten und Demokratie strebende kurdische Bewegung ist den Herrschenden ein dickes Dorn im Auge. Mit allen Mittel versuchen sie daher die kurdische Bewegung zu zerschlagen. Mit dem neu ernannten Oberbefehlshaber der Armee, Necdet Özel, einem als Kriegsverbrecher enttarnten General, hat die AKP-Regierung jemanden an der Hand, der verlässlich für ihre Außenpolitik und eine härtere Gangart gegenüber der kurdischen Bewegung einsteht.

Allem Anschein nach ist die AKP-Regierung dabei, einen großen Militärschlag gegen die kurdische Bewegung vorzubereiten. Dieser wird wahrscheinlich von immensen Repressalien und einem Verhaftungsflut, der auch türkische Linke und GewerkschafterInnen nicht verschonen wird, begleitet werden. In letzter Zeit wird verstärkt darauf hingewiesen, dass die tamilische Widerstandsbewegung in Sri Lanka auch zerschlagen wurde, indem man entsprechend hohe Opferzahlen in Kauf nahm – und dass es durchaus möglich sei, mit militärischer Härte erfolgreich gegen eine »terroristische Organisation« vorzugehen. Man rechnet offenbar damit, mit einem großangelegten Krieg, die »Kurdenfrage« endgültig lösen (!) zu können.

Ob jedoch diese Rechnung aufgehen wird, scheint nicht sicher zu sein. Die Ausrufung der demokratischen Selbstverwaltung in den kurdischen Gebieten, die ungebrochene militärische Stärke der PKK-Guerilla und die hohe Politisierung des kurdischen Volkes sind Hindernisse, die kaum mit militärischen Mitteln überwunden werden können. Aber sicher steht eins: die Fortführung dieser Politik wird nicht zu einer Demokratisierung der Türkei führen, sondern das ganze Land, womöglich die ganze Region zu einem Flächenbrand verwandeln, der sicher auch ein großes europäisches Problem sein wird. Noch haben die türkischen Entscheidungsträger Möglichkeiten, ein weiteres, größeres Blutvergießen zu vermeiden. Aber dafür scheinen die Hoffnungen nicht sehr groß zu sein.