Donnerstag, 18. April 2013

Die türkische Sicht auf die NSU-Morde*

Seit dem Auffliegen der neonazistischen Terrorzelle »NSU« zeigen verantwortliche Politiker in Ankara bei jeder Gelegenheit ihre Betroffenheit über die Morde und ihren Willen, »die NSU-Morde stärker unter die Lupe« nehmen zu wollen. Ayhan Sefer Üstün, Abgeordneter der regierenden AKP (Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung) und Vorsitzender des Untersuchungsausschusses für Menschenrechte im türkischen Parlament, will an dem Prozessauftakt gegen die NSU-Terroristin Beate Zschäpe am 17. April 2013 persönlich teilnehmen und damit »Solidarität mit den Familien der Opfer« zeigen.
Ob die türkische Regierung damit die Familien der Opfer zufrieden stellen kann, ist noch nicht ausgemacht. Zu mindestens für Semiya Şimşek-Demirtaş, Tochter des ersten NSU-Opfers Enver Şimşek, bedarf es mehr. Noch am 15. Februar 2013 meldete die Deutsche Welle, dass Şimşek-Demirtaş, die inzwischen ihr Geburtsland Deutschland verlassen habe und in die Türkei übersiedelt sei, den türkischen Behörden vorwarf, »sich zulange mit den beruhigenden Stellungnahmen der deutschen Ermittler zufrieden gegeben« zu haben. [1]

Dieser Vorwurf ist nicht unberechtigt. Zwar nehmen sowohl der Premier Recep Tayyip Erdoğan und sein Außenminister Ahmet Davutoğlu in Fraktionssitzungen oder vor der türkischen Presse kein Blatt vorm Mund, wenn der »Rassismus in Europa« angeprangert und die Aufklärung der Morde gefordert wird, aber außer diesen innenpolitisch motivierten Aussagen sind konsequente regierungsamtliche Schritte nicht in Sicht. Mehr noch, der Untersuchungsbericht von Üstün und seinem Ausschuss bescheinigt den »Bemühungen der Bundesregierung und ihren Ministerien erfolgreiche Schritte im Kampf gegen den Rechtsextremismus«. [2] Der Ausschuss stellt »mit Freude fest«, dass die Bundesregierung eine Ombudsfrau für die Hinterbliebenen der Opfer ernannt habe und im Bundesinnenministerium »konkrete Schritte für die Bekämpfung des Rechtsextremismus unternommen« werden. Mit keinem Wort aber werden die Kontakte und die Zusammenarbeit deutscher und türkischer Stellen vor dem Auffliegen der NSU genannt. Der Bericht wurde am 13. Juni 2012 mit den Stimmen der 16 Regierungsabgeordneten und 9 Oppositionsabgeordneten der CHP (Republikanische Volkspartei) und der neofaschistischen MHP (Partei der nationalistischen Bewegung) angenommen. Das einzige negative Votum kam von dem sozialistischen Abgeordneten der BDP (Partei des Friedens und der Demokratie), Ertuğrul Kürkçü.

Kritische Stimmen in den türkischen Medien sehen darin einen Versuch der Regierung, die berechtigte Kritik der Hinterbliebenen abzuwehren und gleichzeitig die NSU-Morde für innenpolitische Zwecke zu instrumentalisieren. Es sei eine Doppelmoral, einerseits den Deutschen und ihren Behörden jahrelang unterschwellig Rassismus vorzuwerfen, aber gleichzeitig den türkischen Nationalismus zu pflegen. Es mag sein, dass diese Vorwürfe sich wie Verschwörungstheorien anhören, aber die Tatsache, dass türkische Sicherheitsbehörden von Anfang an in die Ermittlungen involviert waren und in Zusammenhang mit den Morden auch von türkischen Stellen falsche Fährten gelegt wurden, wirft viele Fragen auf.

Manipulative Berichterstattung
Bis zu den Morden in Hamburg (Süleyman Turşucu am 27. Juni 2001) und München (Halil Kılıç am 29. August 2001) finden sich in türkischen Medien, außer Kurznachrichten, keinerlei Berichte über die Morde. Auslandsausgaben der regierungsnahen türkischen Zeitungen werden auf die Mordserie erst dann aufmerksam, als Mitte 2005 die sog. »SOKO Bosporus« eingesetzt wird. Die türkische Berichterstattung spricht immer wieder von dem Verdacht der »organisierten Kriminalität«. 2005, 2006 und 2007 kann man dann verfolgen, wie türkische Medien versuchen, nun auch in der Türkei, Verbindungen zu der kurdischen PKK herzustellen.

Nach den letzten Morden in 2006 (Mehmet Kubaşık am 4. Aprik 2006 in Dortmund und Halit Yozgat am 6. April 2006 in Kassel) wurde die mediale Jagd auf die PKK endgültig eröffnet. Im türkischen Fernsehen wurden zahlreiche Talkshows und Nachrichtensendungen gezeigt, in denen türkische »Terrorismusexperten« über »Drogengeschäfte der PKK und in diesem Zusammenhang stehende Morde in Deutschland« spekulierten. Die türkischen Tageszeitungen wärmten diese These immer wieder auf: Am 30. April 2006 berichtet die Tageszeitung Hürriyet, dass »türkische Sicherheitsbehörden hinter den Morden PKK-Mitglieder vermuten, die unabhängig von der Organisationszentrale Drogengeschäften und Schutzgelderpressung nachgehen«.

Obwohl in gleichen Medien der Verdacht von türkischen MigrantInnen in Deutschland über einen möglichen rassistischen Hintergrund genannt wurden, gingen türkische Medien lieber Verschwörungstheorien nach: Die liberale Tageszeitung Radikal berichtet am 1. November 2006, dass »deutsche und türkische Ermittler bei allen acht Opfern« festgestellt hätten, »dass sie von dem islamistischen YIMPAS-Konzern um ihre Anlagegelder geprellt wurden«. Die »Spur zum Islamisten« würden deutsche wie türkische Ermittler »sehr ernst nehmen«. Erstmals wurde hier von einer gemeinsamen deutsch-türkischen Arbeitsgruppe berichtet.

Auch die regierungsnahe Tageszeitung Sabah berichtete am 30. September 2007, dass »die SOKO Bosporus unter der Leitung von Wolfgang Geier und die türkische Ermittlungskommission CESKA unter der Leitung von Mehmet Ali Keskinkılıç zusammenarbeiten«. Beide Kommissionen würden »PKK-Verbindungen untersuchen«. In den folgenden Wochen wurde diese Version von allen bürgerlichen Medien der Türkei verbreitet. So berichteten die Tageszeitungen Bugün, Hürriyet, Sabah, Star, Yeni Şafak, Zaman u. a. im Oktober 2007, dass das Generaldirektorat der türkischen Polizei ein »Ergebnisbericht« veröffentlicht habe und dieser Bericht »die getöteten 8 Türken als Drogenverkäufer bezeichnet«. In diesem Bericht, welcher dem SOKO-Chef Geier ausgehändigt sei, werde »eine kurdische Familie aus Diyarbakır beschuldigt, die Drogenverkäufer von einem 5-köpfigen Killerkommando exekutieren gelassen zu haben«. [3] Lange Zeit wurde diese These aufrechtgehalten und in Zusammenhang mit anderen Berichten über die kurdische Bewegung wurde die sog. »PKK-Verbindung« als »Tatsache« dargestellt. Als jedoch diese »Tatsache« von deutschen Stellen nicht bestätigt werden konnte, verpufften diese Berichte und waren kein Thema mehr.

Nach dem Auffliegen der »NSU«
Umso überraschter waren dann die Kolumnisten der regierungsnahen Medien, als es feststand, dass die Morde von einer neonazistischen Terrorbande begangen wurden. Die Öffentlichkeit in der Türkei war nach dem Bekanntwerden der »NSU« sehr betroffen. Die Tatsache, dass Menschen nur aufgrund ihrer Herkunft ermordet wurden, weckte Erinnerungen an Mölln, Solingen, Hünxe und andere rassistischen Gewalttaten wach. Zehntausende Kommentare unter entsprechenden Nachrichten veranlassten die türkischen Medien, zeitweise die Kommentarfunktion ihrer Internetseiten abzuschalten.

Überwältigt von dem großen öffentlichen Interesse, kritisierten nun PolitikerInnen der Regierungspartei offen die Bundesregierung in scharfen Tönen und forderten konkrete Maßnahmen zum Schutz der »Türken in Deutschland«. Die Tatsache, dass der Verfassungsschutz und die Geheimdienste in Deutschland in diesem Zusammenhang beschuldigt und immer mehr fahrlässige Fehler bekannt wurden, nahmen türkische Medien zum Anlass, um den »deutschen tiefen Staat« anzuprangern. Angeregt durch die sozialistischen Abgeordneten der BDP bildete die Menschenrechtskommission des türkischen Parlaments einen Untersuchungsausschuss. Die Ausschussmitglieder reisten nach Deutschland und führten mit Vertretern der Bundesregierung und dem Bundestags-Untersuchungsausschuss Gespräche.

Obwohl hochrangige Regierungspolitiker, wie der türkische Justizminister Sadullah Ergin noch im Februar 2013 von »Umtrieben des deutschen tiefen Staates« sprachen, war in den offiziellen Gesprächen zwischen beiden Regierungen nicht davon die Rede. Im Gegenteil, die türkische Regierung bescheinigte der Bundesregierung ernsthafte Aufarbeitungs- und Aufklärungsschritte. Seit 2012 ist in den gängigen Medien der Türkei eine Berichterstattung zu verfolgen, die nicht anders ist als in Deutschland, wobei die Gewichtung in den Auslandsausgaben der türkischen Tageszeitungen höher ist als in der Türkei. Die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit in der Türkei hat aufgrund der Entwicklungen im eigenen Land etwas abgenommen.

Doch die Fragen, die in den gängigen türkischen Medien nicht gestellt werden, werden heute noch in den alternativen türkischsprachigen Medien gestellt. Insbesondere für linke Medien, aber auch für jene, die von den Selbstorganisationen türkeistämmiger und kurdischer MigrantInnen in Deutschland herausgegeben werden, sind die »NSU«-Morde weiterhin Thema Nr. 1. Alternative türkischsprachige Medien verfolgen mit großer Interesse die Arbeit des Untersuchungsausschusses des Bundestages und kritisieren die »gezielte und bewusste Vertuschung durch staatliche Behörden«.

So kommentiert beispielsweise die türkischsprachige Wochenzeitung »Yeni Hayat« (Neues Leben), dass »es außer Zweifel steht, dass es eine Staatliche Mitverantwortung an den NSU-Morden und an der politischen Stimmung gibt, die nicht ›nur‹ diese Morde und Anschläge ermöglicht haben«. [4] Türkeistämmige und kurdische Selbstorganisationen erklären, dass sie den Rassismus in Deutschland nicht als ein Randphänomen sehen, »das sich an einen rechten, ›extremistischen‹ Rand der Gesellschaft verschieben lässt. Er ist in der Mitte der Gesellschaft vorhanden und hat Struktur sowie Methode«. [5]

Sowohl migrantische Selbstorganisationen als auch die türkischsprachigen alternativen Medien sind der Auffassung, dass die »NSU«-Morde bewiesen haben, dass staatliche Behörden, insbesondere der Verfassungsschutz und die Geheimdienste »nicht Blind auf dem rechten Auge« seien, weil sie Neonazis für ihre Zwecke nutzen würden. Daher wäre es notwendig, das Grundgesetz gerade vor diesen Diensten zu schützen. Es gäbe »kein Fehler im System der Dienste«, sondern »das System selbst« sei der Fehler für einen demokratischen Rechtsstaat.

In der Tat; solange die herrschenden Macht- und Eigentumsverhältnisse, auf denen jegliche rassistische, antisemitische und wohlstandschauvinistische Grundhaltungen basieren, nicht hinterfragt, solange die institutionalisierten Diskriminierungs- und Ausgrenzungsmechanismen des staatlichen Handelns nicht zurückgedrängt und der in der gesellschaftlichen Mitte fest verankerter Rassismus, welches wiederum von rechtspopulistischer Rhetorik der neoliberalen Eliten gefördert wird, nicht konsequent angegangen wird, solange wird es auch nicht möglich sein, den fruchtbaren Boden des Rechtsextremismus, Neonazismus und anderen neofaschistischen Umtrieben in der bürgerlichen Gesellschaft auszutrocknen.

Die einzige Lehre, welche die aus den »NSU«-Morden gezogen kann, ist die, dass der Neonazismus kein Betriebsunfall der bürgerlichen Demokratie ist, sondern ein Verbrechen, der seine Lebensquelle in der Aushöhlung der Demokratie, der Ausgrenzung von Minderheiten und sozialer Ungerechtigkeit findet. Das demokratische Rechts- und Sozialstaatlichkeitsprinzip des Grundgesetzes und die geltende Strafgesetzgebung reichen vollkommen aus, um den Neonazismus zu bekämpfen. Notwendig ist aber dafür der politische Wille. Solange die verantwortliche Politik diesen Willen nicht zeigt, solange wird sie sich den Vorwurf gefallen lassen müssen, nichts, aber absolut nichts gegen die neonazistischen Mörder unternommen zu haben.

Genau das ist die einhellige Meinung der türkeistämmigen und kurdischen MigrantInnen in Deutschland, wie sie in den zahlreichen Internetseiten zu finden ist.

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*) Dieser Artikel erschien im Buch: »Schreddern, Spitzeln, Staatsversagen - Wie rechter Terror, Behördenkumpanei und Rassismus aus der Mitte zusammengehen«, VSA-Verlag April 2013, ISBN 978-3-89965-550-6 (Siehe: http://www.vsa-verlag.de/nc/buecher/detail/artikel/schreddern-spitzeln-staatsversagen/)

[1] http://www.dw.de/t%C3%BCrkei-nimmt-nsu-morde-st%C3%A4rker-unter-die-lupe/a-16601697
[2] TBMM İnsan Hakları İnceleme Komisyonu: 2000 – 2006 Yıllarında Almanya’da Neo.nazilerce İşlenen Cinayetler Hakkında İnceleme Raporu (Untersuchungsausschuss für Menschenrecht des Großen Türkischen Nationalparlaments: Untersuchungsbericht über die zwischen 2000 – 2006 von Neonazis begangenen Morde in Deutschland). Siehe: http://www.tbmm.gov.tr/komisyon/insanhaklari/docs/2012/raporlar/neo_nazi_cinayetleri.pdf
[3] Ausnahmslos geben alle diese Zeitungen als Quelle für diesen Bericht »Ankara« an. Insider in der Türkei wissen, dass bei der Quellenangabe »Ankara« ohne Nennung einer Nachrichtenagentur immer eine staatliche Stelle gemeint ist. Die Hauptstadtbüros der regierungsnahen Zeitungen veröffentlichen immer solche Meldungen ohne eine redaktionelle Überarbeitung. Auch dieser Bericht, der in allen genannten Zeitungen und im Internet veröffentlicht wurde, war Wortgleich und beinhaltete sogar den gleichen Fehler: Ein »Valfgang Geirer« sei »Vorsitzender des Bundeskriminalamtes«. Daher liegt der Verdacht nahe, dass hinter der Berichterstattung über etwaige »PKK-Verbindungen« staatliche Stellen der Türkei stehen. Siehe auch: http://www.haber3.com/seri-cinayetler-pkk8217nin-isi--293586h.htm
[4] http://www.yenihayat.de/category/deutsch
[5] Siehe u. a.: http://www.allmendeberlin.de/