Montag, 1. Juli 2013

Arbeiterklasse am Taksim


Die Protestbewegung in der Türkei ist vielschichtig. Auch einige Gewerkschaften spielen eine Rolle in dem Protest gegen Gentrifizierung, neoliberalen Gesellschaftsumbau und Erdogan.

Ein »Aufstand der Mittelschicht« sei es, ein »Kulturkampf der weißen Türken gegen Islamisierung« – so der Tenor in den bürgerlichen Medien. Als unbestritten gilt, dass der Protest städtisch ist und von gut Ausgebildeten getragen wird. Doch das ist nur die halbe Wahrheit. Denn jüngste Untersuchungen belegen die Klassenzugehörigkeiten: 58 Prozent der Protestierenden sind abhängig Beschäftigte, zehn Prozent arbeitslos und 24 Prozent Studierende bzw. Schüler. Teilgenommen haben auch zahlreiche prekäre Scheinselbständige wie Rechtsanwälte oder Steuerberater.
Auch wenn die Demonstranten keine gemeinsame ideologische Basis zu haben scheinen und obwohl tiefe Differenzen oder gar Feindschaften zwischen den Gruppen existieren, bildet die Unzufriedenheit mit der Erdogan-Regierung die Gemeinsamkeit. Und das hat vor allem soziale Gründe. Die sogenannten »städtischen Mittelschichten«, also die gut ausgebildeten und über dem Durchschnitt verdienenden laizistischen Gruppen sind seit Beginn der Weltwirtschaftskrise in einer Verarmungsspirale gefangen oder laufen zumindest Gefahr, in die Armut hinabzugleiten. Und mittlerweile werden die prekären Arbeits- und Lebensverhältnisse und die Tendenz der Proletarisierung breiter Bevölkerungsschichten zunehmend sichtbar. Das gilt trotz des gefühlten Wohlstands, der durch die exorbitante Verschuldung privater Haushalte finanziert wird. Eben diese realen Verschlechterungen, gepaart mit der autoritär-islamistischen Einmischung in ihre Lebensweise staute die Wut, die sich mit den Ereignissen um den Gezi-Park in Istanbul Ende Mai mit eruptiver Kraft entlud.
Aber diese Gruppen haben ein gewaltiges Problem: Sie sind weder politisch noch gewerkschaftlich organisiert, weil sie bisher ihre Proletarisierung nicht wahr haben wollten. Die Ablehnung des neoliberalen Umbaus im Allgemeinen und der Gentrifizierung ganzer Stadtteile im Besonderen wird von allen getragen, aber der Protest dagegen artikuliert sich individuell. Auch deshalb begnügen sie sich mit kurzfristigen Verbesserungsforderungen und haben den Schulterschluss mit der organisierten Arbeiterbewegung noch nicht gesucht. Das hat sicherlich auch mit der Kraftlosigkeit und der Zersplitterung der Gewerkschaften zu tun. Seit dem Militärputsch von 1980 haben die erheblich geschwächten Gewerkschaften es besonders schwer, sich zu organisieren. Eine restriktive Gesetzgebung und eine gewerkschaftsfeindliche Regierungspolitik sowie die Tatsache, dass rund elf Millionen Menschen im informellen Sektor beschäftigt sind, bilden wesentliche Organisationshemmnisse. Hinzu kommen hausgemachte Probleme wie etwa bürokratische Strukturen und ideologische Kämpfe um Vorstandsposten. Das lässt die Gewerkschaften unattraktiv erscheinen. Da keine Einheitsgewerkschaften existieren, stehen den regierungsnahen Gewerkschaftsdachverbänden TÜRK-IS und HAK-IS sowie dem nationalistisch-islamischen Beamtenbund Memur-Sen, die linken Konföderationen DISK (Konföderation der Revolutionären Arbeitergewerkschaften der Türkei) und KESK (Konföderation der im öffentlichen Dienst beschäftigten Arbeiter) gegenüber.
DISK und KESK waren die einzigen Gewerkschaften, die gemeinsam mit den Berufsverbänden der Ingenieure und Architekten (TMMOB), der Ärzte (TTB) und Zahnärzte (TDB) die Proteste unterstützt haben. Sie leisteten logistische Unterstützung und beteiligten sich an den Demonstrationen. Darüber hinaus hat die KESK für den 4. und 5. Juni, die DISK lediglich für den 5. Juni und beide gemeinsam mit TMMOB, TTB und TDB für den 17. Juni zu einem jeweils befristeten Generalstreik aufgerufen. Der Wirkung blieb indes relativ gering. Gemessen an den Mitgliederzahlen – DISK 100000, KESK 230000, TMMOB 430000, TTB 90000 und TDB 24000 – war die Beteiligung am Generalstreik mit knapp 50000 in 15 Städten sehr niedrig.
Dies zeigt, dass die Gewerkschaften und die Taksim-Bewegung noch nicht zu einander gefunden haben. Letztlich wird es darauf ankommen, ob es den Aktivisten gelingt, mit der kurdischen Bewegung wie auch mit den Gewerkschaften ein breites Bündnis zu schmieden, um den Protest zum Erfolg zu führen. Aber auch die Gewerkschaften müssen umdenken und die Chance zur Erneuerung sehen. Denn wie in Brasilien, Bulgarien oder Griechenland, ist auch in der Türkei der soziale Aspekt deutlich geworden. Ohne Frage: Taksim ist das Symbol des sozialen Widerstandes.