Sonntag, 7. August 2016

Die Türkei nach dem Putschversuch

Wenn aus dem gescheiterten Putschversuch am 15. Juli 2016 in der Türkei eine erste Lehre gezogen werden sollte, dann kann es nur die Tatsache sein, dass der »Qualitätsjournalismus« bürgerlicher Medien völlig ungeeignet ist, die eigentlichen Hintergründe von politischen Entwicklungen im eigenen Land und in der Welt zu durchleuchten. Wer z.B. in der BRD die aktuelle Entwicklung in der Türkei nur über die Berichterstattung der bürgerlichen Medien verfolgt, kann sich dem Eindruck nicht erwehren, dass Erdoğan fester denn je im Sattel sitzt, die Türkei sich vom Westen abwendet, das AKP-Regime alles unter die Kontrolle des »Palastes« gebracht hat und natürlich nahezu alle türkeistämmigen Migrant*innen in der BRD Erdoğan unterstützen. Entspricht das alles wirklich der Realität?

Schauen wir uns zuerst die Situation in der Türkei an: Seit dem Putschversuch sind nun fast 3 Wochen vergangen. Die gesamte Bevölkerung – kurdische Teile und Linke ausgenommen – scheint von einer Nationalismus-Euphorie erfasst zu sein. Türkische Zeitungen berichten, dass innerhalb weniger Tage nach dem Putschversuch über 100 Millionen türkische Fahnen verkauft worden seien – das bei einer Einwohnerzahl von knapp 75 Millionen. Aber in der Tat: wohin man blickt, überall sind türkische Fahnen zu sehen: auf den Fenstern von Gebäuden, auf Autos, in Einkaufszentren, Schulen, Geschäften etc. Dazu kommen die megagroßen Fahnen, die kilometerweit zu sehen sind. Übertriebener Eifer fehlt auch nicht: Auf einem 6-stöckigen Wohnhaus waren 30 türkische Fahnen zu zählen. Jede Nacht kommen zehntausende Menschen mit Fahnen zu Kundgebungen, die nun »Demokratiewacht« genannt werden. Autokorsos, »Allah-u Ekber«-Rufe und Treueeide auf die »Demokratie«, begleitet von Gebetsrufen aus den Minaretten.
Manche Laizisten fühlen sich in einem Alptraum gefangen: Fernsehbilder zeigen Massen von schwarzverhüllten Frauen, Bartträger in islamistischer Bekleidung, »Scharia«-Rufe, ein Mob, der vor Angriffen auf vermeintlich Andersdenkende nicht zurück scheut. Beispiele gibt es zuhauf: Eine schwangere Mitarbeiterin der linken Tageszeitung »Evrensel« wird auf offener Straße als »Gülenistin« angegriffen und zusammengeschlagen. Während die Angreifer, darunter auch verhüllte Frauen, weitere Passanten mit »jetzt werdet ihr euch uns unterwerfen« Rufen bedrohen und von der Polizei unbehelligt weiterziehen können, wird dem Opfer im Krankenhaus ein ärztliches Attest verwehrt. In Malatya werden Alewiten angegriffen, aus Konya und anderen Orten wird von Lynchversuchen gegen syrische Flüchtlinge berichtet. Der Mob pöbelt und die Polizei lässt sie gewähren.
Nahezu alle Fernsehkanäle und Zeitungen sind gleichgeschaltet. Oppositionelle Medien sind entweder verboten worden oder der Zugang zu diesen wird verhindert. Zahlreiche Internetseiten sind nicht erreichbar. Obwohl immer noch nicht nachgewiesen werden konnte, wer die eigentlichen Drahtzieher des Putschversuches waren, wird Fetullah Gülen als Staatsfeind Nr. 1 dargestellt. Rund 60.000 Menschen sind vom Staatsdienst bzw. vom Angestelltenverhältnis entfernt worden. Knapp 19.000 wurden festgenommen, 9.677 von ihnen wurden verhaftet. Fast 50.000 Menschen mussten ihre Reisepässe abgeben. Tausende Richter und Staatsanwälte, darunter zwei Verfassungsrichter, Offiziere, Polizeibeamte, Mitarbeiter*innen von zahlreichen Ministerien und der Bürokratie sind inzwischen inhaftiert. Fernsehzuschauer*innen verfolgen geschockt die Bilder von dem Putschversuch und wie der gesamte Staatsapparat von dieser faschistoiden Gülen-Bewegung unterwandert war. Erdoğan und Regierungsmitglieder werden nicht müde zu erklären, dass Gülen-Leute an allem, was bisher in der Türkei an Massakern und extralegalen Hinrichtungen, Bombardierungen etc. geschah, schuldig sind. Das Erklärungsmuster für alles Schlechte in der Türkei ist nun »FETÖ«, die »Fetullah Gülen Terrororganisation«. Nun wird das, was türkische Linke und die kurdische Befreiungsbewegung seit Jahren gesagt haben, regierungsamtlich bestätigt.
Differenzierte Betrachtung notwendig
Es ist richtig, dass die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung in der Türkei gegen den Putschversuch war und das parlamentarische System unterstützt. Es entspricht auch der Tatsache, dass seit fast 3 Wochen jede Nacht in zahlreichen Städten zehntausende Menschen an den von der AKP organisierten »Demokratiewacht«-Kundgebungen teilnehmen. Aber das bedeutet keineswegs, dass die AKP immer noch über eine große gesellschaftliche Unterstützung verfügt. Die nackten Zahlen belegen das.
Trotz der propagandistischen Bemühungen des AKP-Regimes (Aufrufe aus den Minaretten von rund 85.000 Moscheen, Medien usw.) nehmen durchschnittlich an den Kundgebungen in der gesamten Türkei nur einige hunderttausend Menschen teil. Selbst an den ersten Tagen waren es kaum mehr. Sogar die kemalistische CHP konnte, dank der Unterstützung linker Parteien und Organisationen, am 24. Juli 2016 fast eine Million Menschen auf dem Taksim-Platz zusammenbringen. Laut Mustafa Ataş, stellvertretender Parteivorsitzender der AKP, hat die Partei fast 10 Millionen Mitglieder. [1] Die militante AKP-Jugendorganisation verfügt über rund eine Million Mitglieder. Bei den Wahlen kann die AKP rund 2,8 Millionen Wahlhelfer*innen mobilisieren. Wenn man diese Zahlen und die Tatsache bedenkt, dass seit dem 16. Juli 2016 alle öffentlichen Verkehrsmittel kostenlos sind, auf den Kundgebungen Lebensmittel und Getränke verteilt werden und sogar einige AKP-Organisationen Taschengelder verteilen, kann von einer »großen Mobilisierung« nicht gesprochen werden. Dazu kommt die Tatsache, dass alle Bediensteten der staatlichen und kommunalen Stellen, Beamte und Angestellte, Lehrer*innen und Schüler*innen, sogar Mitarbeiter*innen von Unternehmen in öffentlicher Hand zur Teilnahme an den Kundgebungen verpflichtet werden. [2] Angst vor Verhaftung und vor dem Verlust des Arbeitsplatzes ist die eigentliche Motivation für viele an den Kundgebungen teilzunehmen. Das gilt natürlich nicht für die Kernbasis der AKP und für die islamistischen Organisationen. Die Arroganz, die dem politischen Islam innewohnt, ist auch bei diesen Teilen spürbar, so dass Erdoğan und sein Ministerpräsident Binali Yıldırım ständig genötigt werden diese Kräfte anzumahnen, »nicht übereifrig zu handeln«.
Es ist offensichtlich, dass das AKP-Regime durch das Stricken an einer »nationalen Einheitslegende« sich aus dem Schlammassel, was sie selbst verursacht hat, rausretten möchte. Medial wird das Bild einer starken, von allen gesellschaftlichen Schichten unterstützten, aber von »ausländischen Mächten« bedrängten »nationalen Kraft« aufgebaut. Die kritische Berichterstattung westlicher Medien und die dort herrschende »Erdoğan-Gegnerschaft« wird fast genüsslich für die Propaganda instrumentalisiert. So auch die Pro-Erdoğan-Demo am 31. Juli 2016 in Köln. Regierungsmitglieder werfen europäischer Politik »Zensur« vor und verherrlichen die »Türkei-Liebe europäischer Türken«.
Hier sollte ordnungshalber darauf hingewiesen werden, dass seitens der bürgerlichen Medien in der BRD ein ähnliches Bild gepflegt wird. Einige Zehntausend Teilnehmer*innen der Demonstration, darunter nicht nur AKP-Anhänger*innen, sondern auch Graue Wölfe, Mitglieder anderer nationalistischen Parteien und Islamisten nichttürkischer Herkunft, sollen den Beweis erbringen, dass »ein großer Teil der in Deutschland lebenden Türken Erdoğan unterstützen«. Ein billiges Kalkül: eine normale Entwicklung in einer Einwanderungsgesellschaft, nämlich dass Migrant*innen mit ihrem Herkunftsland eng verbunden sind und auch aufgrund der institutionellen Diskriminierungsmechanismen herkunftsbezogene politische / kulturelle Identitäten als Schutzschild benutzen, wird für eine restriktive Migrationspolitik instrumentalisiert und gerade in einer Zeit der erstarkten fremdenfeindlichen Stimmung innenpolitisch missbraucht. Dabei wissen die Bundesregierung und die Landesregierungen seit Jahrzehnten, dass der türkische Staat sich in der BRD verschiedenen Vereinen und Verbänden bedient, türkeistämmige Migrant*innen als »Lobbyisten« der türkischen Politik auszunutzen versucht, finanziell und personell Vereine und Verbände unterstützt, sogar extralegale Hinrichtungen auf europäischem Boden vollzogen hat, Imame und Lehrer*innen als Beamte nach Europa schickt und über die Generalkonsulate die Geheimdiensttätigkeiten innerhalb der türkischen Community organisiert. [3] Die gleiche verantwortliche Politik, die der Religionsanstalt der Türkei und somit dem Nationalen Sicherheitsrat der Türkei unterstellte DITIB (Türkisch Islamische Union der Anstalt für Religion e.V.) und andere regierungsnahe islamistische Organisationen als Ansprechpartner für den islamischen Unterricht in der BRD bzw. für die sog. »Islam Konferenz« anerkannt hat, verlangt nun von diesen, dass sie »sich von Erdoğan zu distanzieren haben«. Wenn sie dabei ernst wären, müssten sie sofort Konsequenzen ziehen: diese Organisationen nicht mehr anerkennen und jegliche Zusammenarbeit mit ihnen sowie die finanzielle Förderung einstellen.
Auch die Erdoğan-Organisation »UETD – Union europäisch-türkischer Demokraten«, die »türkische Pegida«, wie sie von der Tageszeitung Die Welt bezeichnet wird, wird als eine »starke, mobilisierungsfähige Organisation« bezeichnet. Dabei wäre die UETD ohne die enormen finanziellen Zuschüsse aus dem »Palast«-Erdoğans und der türkischen Regierung kaum in der Lage, solche Massenveranstaltungen durchzuführen. UETD bezahlt die Busse und die Fahrt mit anderen Verkehrsmitteln, um aus ganz Europa ihre Anhänger*innen zu den Demonstrationen bzw. Erdoğan-Auftritten zu bringen. Auch die DITIB, Koordinierungsräte türkischer Vereine sowie die Konsulate und die türkische Botschaft sind eifrig an der Organisierung dabei. Das alles ist der verantwortlichen Politik und den bürgerlichen Medien seit langem bekannt. Deshalb ist die zur Schau gestellte Empörung heuchlerisch und von Interessen geleitet. Die aktuelle Schein-Debatte über die Doppelstaatsangehörigkeit belegt dies.
»Segen Gottes«: Die Gülen-Bewegung
Für Erdoğan ist nun der gescheiterte Putschversuch wie ein »Segen Gottes« [4] – aber nicht nur der Putschversuch, sondern die faschistoide Gülen-Bewegung insgesamt. Fetullah Gülens Geheimorganisation war anfänglich eine wichtige Stütze des AKP-Regimes. Seit rund 40 Jahren versuchte diese Organisation, die nie mit einer Zentrale in der Öffentlichkeit auftrat und ein riesiges internationales Netzwerk aufgebaut hat, den türkischen Staat zu infiltrieren. Antikommunistisch, antikurdisch, rassistisch-nationalistisch und mit einem Islamverständnis, das an Absurdität kaum zu übertreffen ist, hatte die Gülen-Bewegung sich die Aufgabe gegeben, eine »goldene Generation« aufzuziehen, die in die »Venen und Arterien des Staates eindringen und diesen übernehmen« sollte (F. Gülen im O-Ton). Seine Anhänger sollten sich »verstellen, wenn nötig im Ramadan Raki trinken und abwarten, bis ihre Zeit gekommen ist«, so Gülen weiter. Bis dahin stellte sich die Bewegung in den Dienst [5] verschiedener Regierungen und Parteien und fand Unterstützer wie den ehem. Staatspräsidenten Süleyman Demirel oder den ehem. Ministerpräsidenten Bülent Ecevit.
Mit der Gründung der AKP war die »Zeit« für die Bewegung gekommen. Es ist allgemein bekannt, dass die AKP eine Koalition unterschiedlicher sunnitisch-konservativer Kräfte ist. Die Gülen-Bewegung war lange Zeit ein tragendes Element der AKP. Erdoğan konnte mit Hilfe der Gülen-Leute seinen Machtkampf gegen die kemalistischen Eliten im Staat gewinnen. Da die Gülen-Bewegung über loyale Verwaltungsleute, Richter und Staatsanwälte verfügte, wurden sie im Staatsapparat an Schaltstellen gebracht und konnten das Netzwerk vergrößern. In den Kommunalverwaltungen, Ministerien, im Justizapparat, in dem Geheimdienst, in der Polizei, Armee und Gendarmerie bekamen sie die Entscheidungspositionen des nach und nach entfernten kemalistischen Personals. Die Gülen-Bewegung war für Erdoğan wirklich wie ein »Segen Gottes«, denn mit ihrer Hilfe konnte er seinen Krieg gegen die Kemalisten erfolgreich führen. Die kemalistische Generalität konnte mit Inhaftierungen, konstruierten Putschvorwürfen, »Ergenekon«-Schauprozessen und Haftstrafen domestiziert werden. Aber auch gegen die kurdische Befreiungsbewegung, insbesondere gegen den legalen politischen Teil wurde die Gülen-Bewegung angesetzt. Mit den sog. »KCK-Prozessen« wurde die Willkürjustiz und das Feindstrafrecht par excellence umgesetzt. [6] Nach dem von Erdoğan durchgesetzten Verfassungsreferendum in 2010 konnte die Gülen-Bewegung ihren Einfluss im Justizapparat noch mehr vergrößern.
Erdoğan ließ die Bewegung gewähren. Später sagte er, »wir haben euch alles gegeben, was ihr wolltet«. Denn die Bewegung wollte nun die gesamte Macht im Staat. Zwei Strömungen des politischen Islams, die jeweils die völlige Unterwerfung unter ihre Macht einforderten, gerieten nun aneinander. Die ersten Risse entstanden nach dem israelischen Angriff auf das Gaza-Flottillen-Schiff »Mavi Marmara« im Mai 2010. Gülen kritisierte Erdoğan persönlich, weil er es zugelassen habe, dass ohne die Einwilligung der israelischen Behörden eine solche Aktion gestartet wurde. Aber die eigentliche Krise kam mit dem Versuch eines Gülen nahestehenden Staatsanwalts, im Februar 2012 den Geheimdienstchef Hakan Fidan zwangsweise anzuhören. Erdoğans Regierung ging zum Angriff über und beschloss ein Gesetz, der vorsah, die privaten Unterrichtshilfeinstitute – meist in der Hand der Bewegung – zu verbieten. Der Konflikt eskalierte: es kam heraus, dass Gülen-Leute, die der Abhörabteilung der türkischen Polizei vorstanden, den Geheimdienst, den Ministerpräsidenten, den Außenminister, ausländische Botschaften sowie den Armeechef abgehört und die Protokolle ins Ausland verschafft haben. Und am 17. Dezember 2013 platzte die richtige Bombe: bis zum 25. Dezember wurden in den Medien Abhörprotokolle von Erdoğan und seinen Ministern veröffentlicht. Der Korruptionsskandal, in den Erdoğan, seine Familie und mehrere Minister verwickelt waren, schockierte die Öffentlichkeit.
Danach gingen die gegenseitigen Angriffe verschärft weiter. Erdoğan versuchte durch Gesetzesänderungen und Personalentscheidungen die Gülen-Leute aus deren Ämtern zu verjagen. Die Bewegung veröffentlichte weitere Details der Korruptionen und ließ ein Waffentransport des Geheimdienstes an die »IS«-Leute in Syrien auffliegen. Am 25. Februar 2014 wurden Mitschnitte aus einem Telefonat Erdoğans mit seinem Sohn veröffentlicht. Die Terrororganisation »Parallel-Staat« war geboren. Erdoğan konnte aber die Krise meistern. Ende März 2014 gewann die AKP die Kommunalwahlen und wurde mit 44 Prozent die stärkste Kraft. Durch Änderungen im »Hohen Rat der Richter und Staatsanwälte« und weiteren Maßnahmen sowie Verhaftungen wie im Dezember 2014 sah es so aus, als ob die Gülen-Bewegung im Staat ausgeschaltet war. Die Tatsache, dass Erdoğan die Staatspräsidentschaftswahlen gewann, war Anlass für in- und ausländische Kommentare, die der Gülen-Bewegung die Niederlage bescheinigten – diese Ansicht wurde bis zum 15. Juli 2016 weitgehend vertreten.
Der gescheiterte Putschversuch war nun für Erdoğan Anlass genug, um die Gülen-Bewegung gänzlich auszuschalten. Anfänglich sah es danach aus, dass Erdoğan nun seine Machtbasis stärken kann und ihm der Weg für die Installierung eines autoritären Präsidentschaftssystems völlig offen steht. [7] Es kann durchaus konstatiert werden, dass die Gülen-Bewegung inzwischen zum größten Teil aus den »Venen und Arterien des Staates« entfernt wurde. Nun bekommen sie die Auswirkungen des von ihnen installierten Feindstrafrechts am eigenen Leibe zu spüren. Erdoğan redet inzwischen von Fehlern und bittet »Allah und die türkische Nation um Vergebung«, weil er sich von der Gülen-Bewegung »täuschen« ließ. Wäre die Türkei ein Rechtsstaat, würde das »Bitten um Vergebung« und »getäuscht sein« Erdoğan nicht vor Strafe schützen. Denn Erdoğan und die AKP sind mindestens Mittäter der kriminellen Geheimorganisation Gülens und tragen Mitverantwortung an dessen Taten.
Gülens Logistikzentrum BRD
Mitverantwortung an den Taten dieser kriminellen Geheimorganisation tragen auch europäische Regierungen - die Bundesregierung im besonderen Maße. Seit fast 25 Jahren ist die Gülen-Bewegung in der BRD tätig. Sie konnte innerhalb dieser Zeit ein großes Netzwerk aufbauen, dem zahlreiche Privatschulen, Vereine, Verbände und Unternehmungen sowie Medien angeschlossen sind. Ähnliche Einrichtungen sind in anderen europäischen Staaten zu finden, aber die BRD ist für die Gülen-Bewegung weltweit das wichtigste Logistikzentrum überhaupt. Seit fast so langer Zeit wird die Politik und Öffentlichkeit über diese »Graue Wölfe im Schafspelz« (Nick Brauns) informiert. Obwohl immer wieder auf die Gefährlichkeit dieser Bewegung hingewiesen wurde und im Grunde genommen die Bundesstaatsanwaltschaft von Amts wegen Ermittlungen aufnehmen müsste, werden diese Informationen bis heute ignoriert.
Schon vor Jahren schrieb Nick Brauns folgendes: »In Deutschland lassen sich drei Standbeine der Gülen-Bewegung ausmachen: Ein Bildungsnetzwerk mit dem Ziel der Gewinnung neuer Anhänger und Kader zur Schaffung der von Gülen propagierten ›goldenen Generation‹ für eine zukünftige Weltgeltung der Türkei als islamischer Führungsmacht, Medien zur Verbreitung der Ideen der Gemeinde und politischen Beeinflussung der türkeistämmigen Migration, aber auch der deutschen Öffentlichkeit im Sinne der türkisch-nationalistischen Politik und schließlich Lobbyvereine, die eine Verankerung und damit Absicherung der Gülen-Bewegung im akademischen und politischen Milieu betreiben. Nach außen versuchen diese jeweils rechtlich eigenständig agierenden Vereinigungen den Eindruck völliger organisatorischer Unabhängigkeit zu erwecken. Selbst eine Verbindung zu Gülen wird vielfach verschwiegen und lediglich Sympathien ›für die grundlegenden friedlichen Thesen Gülens‹ (so etwa der Bildungsverein Academy in Frankfurt) eingestanden. Dabei kommt den zuvor in den Bildungseinrichtungen des Netzwerkes ausgebildeten Mitarbeitern der Gülen-nahen Medien eine Funktion als Kader zu – entsprechend der Rolle, die Imame der Gülen-Bewegung in der Türkei einnehmen.« [8] Selbst die regierungsnahe »Stiftung Wissenschaft und Politik« (SWP) bewertete die Bewegung kritisch. [9] Der Autor der SWP-Studie, Günter Seufert bewertet jedoch die Bewegung »in Deutschland nicht als Gefahr« und empfiehlt Entscheidungsträgern und Institutionen »in Deutschland deshalb für die Zusammenarbeit mit Initiativen der Gülen-Bewegung in der Regel offen« zu sein.
So können Gülen-Leute heute weiterhin mit Unterstützung staatlicher Stellen Schulen, Kindergärten eröffnen und »Integrationspreise« erhalten. Sie können ungehindert ihre Mär vom »interkulturellen und interreligiösen Dialog« verbreiten und werden dabei von Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens gegen berechtigte Kritiken verteidigt. Das hat natürlich nichts mit einer politischen Naivität zu tun. Im Gegenteil: es geht darum, und das kann auch aus der SWP-Studie herausgelesen werden, diese Bewegung als Ersatzkraft unter Kontrolle zu halten. Immerhin konnte die Bewegung Jahrzehnte lang unter Beweis stellen, wie sie die Interessen imperialistischer Mächte verteidigte und als schlagkräftiger Handlanger westlicher Geheimdienste tätig war. Es mag sein, dass die Gülen-Bewegung z.Zt. für die Herrschenden in Europa keine »Gefahr« darstellt. Sie verhält sich zurückhaltend und hält sich scheinbar an das geltende Recht und Ordnung. Aber der gescheiterte Putschversuch am 15. Juli 2016 hat bewiesen, zu welchen Taten sich diese kriminelle Organisation entschließen kann. Deshalb werden naive Aufforderungen, wie die von Grünen-Chef Özdemir, [10] nach »Transparenz« keine Auswirkungen haben. Die Gülen-Bewegung ist eine kriminelle Geheimorganisation, die im Rahmen rechtsstaatlicher Instrumente verfolgt werden muss. Und solange die Bundesregierung sich dazu verweigert, solange wird sie sich den Vorwurf gefallen lassen müssen, an den bisherigen Taten der Bewegung mitverantwortlich zu sein.
Die Tage nach dem Putschversuch
In der Türkei gibt es innerhalb der demokratischen Opposition, der kurdischen Befreiungsbewegung und in den linken Kräften niemanden, der der Gülen-Bewegung eine einzige Träne nachweinen würde. Ihre Verbrechen haben derart tiefe Wunden hinterlassen, dass die Opposition die jetzige totale Zerschlagung dieser Bewegung als ein positives Ergebnis der letzten Tage betrachtet. In der Tat: auch der Autor dieser Zeilen war überrascht von dem aufgebauten gewaltigen Netzwerk – trotz langjähriger Kenntnisse über die Gülen-Bewegung. Insofern ist es zu begrüßen, dass die verantwortlichen Gülen-Leute aus den Schaltstellen der Macht entfernt wurden. Das bedeutet aber keineswegs, dass die nichtrechtsstaatliche Behandlung und Folter gutgeheißen wird. Im Gegenteil; es sind gerade linke Kräfte und die Opfer dieser Bewegung, die sich dagegen aussprechen und Rechtsstaatlichkeit auch gegenüber ihren Folterer und Mörder einfordern. Erdoğan und seine Regierung wären gut beraten, wenn sie auf diese Forderungen eingehen würden. Immerhin waren es laizistische, moderne gesellschaftliche Kräfte und die demokratische Opposition, die sich klar gegen den Putsch positioniert haben. Unabhängige türkische Beobachter wie die Journalisten Gökhan Biçici oder Kadri Gürsel sind sich einig: hätte eine kritische Masse von laizistischen Kräften den Putschversuch auf der Straße unterstützt, hätten die Putschisten durchaus – wenn auch sehr blutige – Erfolgschancen erhalten.
Das AKP-Regime scheint diese Tatsache erkannt zu haben. Derzeit versucht Erdoğan mit einer Charmeoffensive die bürgerliche Opposition auf seine Seite zu ziehen. Erdoğans Friedensangebot an die kemalistische CHP und die neofaschistische MHP folgt nicht aus einer Überzeugung für das parlamentarische System, sondern aus einer Zwangslage. Denn die harsche Rhetorik Erdoğans oder einiger seiner Minister sollte nicht darüber hinwegtäuschen, dass das Regime mit dem Rücken zur Wand steht. Dafür gibt es verschiedene Gründe.
In den ersten Tagen nach dem Putschversuch sah es danach aus, dass Erdoğan gestärkt aus dieser Krise herauskam und nun die Chance für die Installierung eines autoritären Präsidialsystems nutzen werde. Bis zum 19. Juli 2016 sah man einen Erdoğan, der vor Kraft und Selbstbewusstsein geradezu strotzte. Jede seiner Reden war wie eine Kriegserklärung an die Opposition: »Ob sie es wollen oder nicht. Wir werden den Gezi-Park umbauen.« Doch am 20. Juli verwandelte er sich wie geläutert »vom Saulus zum Paulus«. Die Frage, ob das Telefonat mit dem US-Präsidenten Obama am 19. Juli eine Rolle gespielt hat wäre rein spekulativ, aber die Annäherungsbemühungen Erdoğans waren real. Schon nach der Sitzung des Nationalen Sicherheitsrates und dem Parlamentsbeschluss über die Verhängung des Ausnahmezustandes im ganzen Land versuchte Erdoğan die Auswirkungen zu relativieren. Der Ausnahmezustand würde »im Alltagsleben unserer Nation nichts ändern«. Im Parlament hatten AKP und MHP Abgeordnete mit Ja und CHP und HDP Abgeordnete mit Nein abgestimmt.
In Zusammenhang mit den Mobilisierungsschwierigkeiten der eigenen Basis schien Erdoğan erkannt zu haben, dass die 50-prozentige Zustimmung in einer Zeit der außenpolitischen Isolation und dem erhöhten Druck der strategischen Partner für den Machterhalt nicht ausreichend ist. Denn selbst ein durchgesetztes Präsidialsystem wäre unter diesen Umständen nicht nachhaltig und würde die erforderliche Stabilität nicht gewährleisten können. Erdoğan sah, dass er und seine Partei auf die kemalistische CHP angewiesen sind und eine Koalition alleine mit der MHP nicht viel bringt – auch die CHP sah dies. Immerhin mussten zehntausende von Stellen in den Ministerien, Verwaltungen, im Militär und Justizapparat neu besetzt werden.
So ist in vielen Teilen der Türkei – natürlich mit Ausnahme Kurdistans – kaum etwas von einem Ausnahmezustand zu spüren. Der Ausnahmezustand sei »dem Staatsapparat verhängt worden«, so der Ministerpräsident Yıldırım. Dass dabei linke Aktivisten mit dem Vorwurf »Gülenisten« verhaftet wurden, sei »ein Fehler, der behoben« werde. In den sozialen Medien konnte man verfolgen, wie Freigelassene meinten, dass es das erste Mal geholfen habe, »ein Atheist und Marxist zu sein«. Ironischer Weise hat sich auch für die kurdische Bevölkerung nichts verändert. In Kurdistan gilt weiterhin das Kriegsrecht und in einigen Orten sind immer noch Ausgangsverbote gültig. Der schmutzige Krieg hat an seiner Abscheulichkeit nichts verloren.
Während Erdoğan »ausländische Mächte« als Drahtzieher des Putschversuches beschuldigte und gegenüber dem Westen scharfe Rhetorik verwandte, sendete er im Inland Signale für ein »nationales Übereinkommen«. So wurde der Taksim-Platz, der für politische Veranstaltungen stets verschlossen war, auf Befehl Erdoğans der CHP für die Kundgebung am 24. Juli zur Verfügung gestellt. Nach dieser beeindruckenden Kundgebung erklärte er, dass »die Türkei innerhalb des demokratisch-parlamentarischen Systems bleiben und sich davon niemals entfernen wird«. Das wurde als ein klares Signal für die Verschiebung der Präsidialsystempläne verstanden. Vor dem Putschversuch hatte Erdoğan stets vermieden, Oppositionsführer in seinem Palast zu empfangen. Nun wurden der CHP-Führer Kemal Kılıçdaroğlu und der MHP-Führer Devlet Bahçeli im Palast empfangen. Demonstrativ wurde die linke HDP ausgegrenzt. Der türkische Nationalismus ist nun das verbindende Element zwischen der AKP, CHP und der MHP.
Erdoğan erklärte, dass er alle Strafanzeigen wegen Beleidigung, immerhin einige Tausend, nun zurückziehe und den »Beleidigern einmalig vergebe«. »Alle« ist natürlich relativ – die Strafanzeigen gegen kurdische Politiker*innen und ausländische Personen bleiben weiterhin bestehen. Überall im Land und insbesondere auf dem Gebäude der AKP-Zentrale in Ankara wurden übergroße Atatürk-Poster als Signal für den Laizismus (kemalistischer Art) aufgehängt und auf zahlreichen Werbetafeln in den Städten wird »der Nation« gedankt: »Heldenmut unserer Nation hat den Putsch verhindert«, »Türkische Nation, wir danken dir«, »Die Souveränität gehört der Nation« usw. Erdoğan spricht nun davon, dass alle Parteien, außer der »Terrorunterstützerin HDP«, nun »geeint mit der türkischen Nation die Demokratie retten werden«. Beharrlich wird an der Legende der »nationalen Einheit« gearbeitet.
Der Ausnahmezustand wird auch für wirtschaftsfreundliche Dekrete und Gesetzespakete genutzt. Die türkische Monopolbourgeoisie und internationale Konzerne werden mit umfangreichen Vergünstigungen umworben. Ein neues Gesetzespaket sieht vor, dass neue Investoren 100 Prozent Steuerbefreiung sowie weitere Subventionen, wie 10 Jahre lang Übernahme der Versicherungsprämien für Beschäftigte oder Rückzahlung der Umsatzsteuer, erhalten. [11] Eines der ersten Maßnahmen des Regierens per Dekret war das Streikverbot. Während Unternehmerverbände mit den Kammern und anderen sog. NGOs zusammenkamen und ihre Gemeinsamkeit mit der Regierung zur Schau stellten, traf Erdoğan Vertreter internationaler Konzerne und sicherte ihnen die Unterstützung des türkischen Staates zu. Diese Bemühungen sind auch notwendig, da die Kreditwürdigkeit Ankaras von Ratingagenturen als schlecht eingeschätzt wird, das Wirtschaftswachstum rückgängig ist und die Inflationsrate inzwischen wieder 9 Prozent beträgt. Die Tourismusbranche leidet unter Fehlbuchungen und das Handelsbilanzdefizit erhöht sich weiter. Um den Konsum anzuregen, wurde die Zentralbank angewiesen, die Zinsen weiter herabzusenken und die Regierung beschloss zusätzliche Unterstützungsmaßnahmen für die Bauwirtschaft. Vom »türkischen Wirtschaftswunder« ist wenig übriggeblieben.
Mögliche Perspektiven
Erdoğan und seine Regierung sind aufgrund der außen- wie innenpolitisch und wirtschaftlich desolaten Situation gezwungen, mit der CHP und MHP zusammenzuarbeiten. Bei der verfassungsrechtlich höchstumstrittenen Aufhebung der Immunität von HDP-Abgeordneten hatten sie schon erste Erfahrungen der Zusammenarbeit gemacht. Aus den Ministerien und Verwaltungen sind Informationen bekannt geworden, dass sowohl die CHP als auch die MHP Personalvorschläge für die freigewordenen Stellen gemacht haben. Und wenn man die selten freundliche Behandlung der Parteichefs von CHP und MHP berücksichtigt, ist es nicht von Hand zu weisen, was manche Journalisten aus Ankara berichten: nämlich, dass Vertreter von Parlamentsfraktionen der AKP, CHP und MHP längst geheime Sondierungsgespräche führen.
Wie eine mögliche Koalition aussehen könnte, konnte man auf der sog. »Demokratie und Märtyrer Kundgebung« am 7. August 2016 in Istanbul sehen. Erdoğan hatte die bürgerliche Opposition zu dieser Veranstaltung eingeladen und hatte dem CHP-Parteichef mehrmals seine Leute geschickt, damit er an dieser Veranstaltung teilnimmt. Der CHP-Parteivorstand entschied sich für eine Teilnahme. So konnte eine Massenveranstaltung (türkische Medien berichten von über 3 Millionen Teilnehmer*innen), die der Euphorie eines Reichsparteitages der NSDAP in nichts nachstand, realisiert werden. Vor einem Fahnenmeer sprachen nacheinander Devlet Bahçeli (MHP), Kemal Kılıçdaroğlu (CHP), der Armeechef Hulusi Akar, der Ministerpräsident Binali Yıldırım, der Parlamentspräsident İsmail Kahraman und zuletzt Erdoğan. Während Kılıçdaroğlu seine 12 Forderungen aufstellte (die durchaus als Bedingung für eine Regierungsbeteiligung verstanden werden konnten), bestanden die übrigen Reden aus reiner Beschwörung von nationalistischen Formeln, dem Vortragen von Heldengedichten, Danksprechungen, Vergangenheitsglorifizierung und Lobhudelei auf das muslimische Türkentum, das »aller Welt gezeigt« habe, dass »die türkische Nation sich nicht in die Knie zwingen lässt«. Es war schon außergewöhnlich, aus den Mündern nationalistischer und islamistischer Politiker Gedichte zu hören, die von dem kommunistischen Dichter Nazım Hikmet oder dem kurdischen Dichter Ahmet Arif geschrieben wurden und jahrzehntelang in der Türkei verboten waren.
Es war eine Veranstaltung, mit der das AKP-Regime ihren strategischen Partnern zeigen wollte, dass sie den Wink mit dem Zaunpfahl verstanden hat und alle wesentlichen Kräfte hinter sich versammeln konnte. Bewusst ausgeschlossen war die HDP, die nun zu Recht behaupten kann, die einzige Oppositionspartei des Landes zu sein. Interessant waren auch die Werbungen während der fast 8-stündigen Liveberichterstattung in allen Kanälen. Alle Werbefilme bzw. Werbeeinlagen während der Live-Sendung beschworen die »eine Nation, eine Heimat, eine Fahne, ein Staat«-Losung Erdoğans. So zeigte die türkische Bourgeoisie, dass alle Kapitalfraktionen hinter der »nationalen Einheit« stehen. Erstaunlicher Weise sprach Erdoğan mit keinem Wort von seinen Präsidialsystemplänen, die er vorher bei jeder Gelegenheit wiederholte. Auch das zeigt, dass diese Pläne – vorerst – in die Schubladen des Palastes gelegt worden sind.
Wann und wie nun eine »Regierung der nationalen Einheit« gegründet wird, kann nicht vorausgesagt werden. Aber es ist mit großer Wahrscheinlichkeit keine Frage des »ob« mehr. Denn es ist die einzige Möglichkeit das Land aus der Sackgasse, in die sie von der AKP hineinmanövriert wurde, raus zu lotsen. Es ist davon auszugehen, dass im Laufe der nächsten Monate diese drei Parteien eine Übergangsregierung bilden und eine weitgehende Verfassungsänderung vorbereiten werden. Auch wenn Erdoğan die HDP demonstrativ ausschließt, so hat er längst zugestimmt, dass die HDP an einer noch zu bildenden Verfassungskommission des Parlaments teilnimmt. Möglich ist auch die Wiederaufnahme der Gespräche mit Abdullah Öcalan auf der Gefängnisinsel İmralı. Denn schon jetzt haben Erdoğan und weitere AKP-Funktionäre begonnen, die Schuld an der Eskalation der militärischen Gewalt der Gülen-Bewegung zu zuschieben. Auch die CHP spricht sich dafür aus, die HDP in die parlamentarische Arbeit einzubinden. Der Türkei wäre es zu wünschen, denn ohne die friedliche und demokratische Lösung der kurdischen Frage ist eine echte Demokratisierung des Landes nicht möglich. Noch aber scheint das Land davon weit entfernt zu sein.
Die Debatten in der EU über die Flüchtlingsübereinkunft mit der Türkei und über die Beitrittsperspektiven zeigen, dass der außenpolitische Druck auf das AKP-Regime sich erhöhen wird. Der Westen wird alles unternehmen, um die von ihren strategischen Interessen geleiteten Forderungen zu diktieren. Trotz der in den bürgerlichen Medien der BRD fortgeführter Erdoğanbashings und bewusst gepflegter Befürchtungen, die Türkei könnte sich vom Westen abwenden und sich Russland und Iran annähern, sind sich die Herrschenden im Westen sicher, dass ein Abgleiten der Türkei nicht möglich ist. Erdoğans Reise nach Russland sollte als Schadensbegrenzungsmaßnahme verstanden werden, nicht als eine außenpolitische Alternative zur NATO. Die Türkei ist wirtschaftlich, politisch und militärisch von der EU und den USA völlig abhängig, wobei auch eine gegenseitige Interessenabhängigkeit besteht. Die Stabilisierung der Türkei durch eine Regierung, die im Parlament über die absolute Mehrheit verfügt, ist im Interesse der EU und der USA, so dass es zu erwarten ist, dass die Bemühungen zur Bildung einer Übergangsregierung bzw. einer »Regierung der nationalen Einheit« von der EU und der USA unterstützt werden. Der »Pragmatismus« strategischer Interessen wird sie dazu zwingen.
Dadurch ist es aber auch wahrscheinlich geworden, dass Erdoğan bezüglich der Korruptionsvorwürfe keine Verfolgung mehr zu befürchten haben wird. Wie im Fall der ehemaligen Ministerpräsidentin Tansu Çiller, die nachweislich in Korruption verwickelt war und Kriegsverbrechen zu verantworten hat, aber nach ihrer Abwahl unbehelligt gelassen wurde, könnte Erdoğan nach Ablauf seiner Zeit als Staatspräsident seine »Pension« in Ruhe genießen. Natürlich ist ein solches Szenario nur dann möglich, wenn Erdoğan sich von seinem Größenwahn und islamistischer Arroganz befreien kann und die Bedingungen des CHP-Chefs für eine Regierungsbeteiligung akzeptiert. Das ist noch nicht sicher.
Auch wenn es sich absurd anhört; das eigentliche Ergebnis des Putschversuches könnte sein, dass das parlamentarische System erhalten und die Installation eines diktatorischen Präsidialsystems abgewendet wird. Das bedeutet aber nicht, dass die Türkei dadurch demokratischer würde. Vergleicht man die Programmatik der AKP, CHP und der MHP, so wird man sehr schnell feststellen, dass alle drei Parteien für eine neoliberale Wirtschaftspolitik, für den türkischen Nationalismus und eine antikurdische Politik, für Kapitalinteressen und für die Zusammenarbeit mit dem Kriegsbündnis NATO stehen. Dennoch; ein halbwegs funktionierendes parlamentarisches System, Gewaltenteilung, Rechtsstaatlichkeit und die Wiederherstellung von bürgerlicher Freiheiten sind vielfach besser als eine faschistisch-islamistische Diktatur.

Ohne Frage: die Türkei befindet sich in einer gewaltigen Umbruchsphase. Noch sind breite Teile der Bevölkerung in der giftigen Atmosphäre der nationalistischen Euphorie gefangen. Noch ist die Gefahr einer AKP-Diktatur nicht gebannt. Auch die Gefahr eines erneuten Putschversuches besteht weiterhin – auch wenn sie geringer geworden ist. Schlimmer noch: das Beharren auf einer militärischen »Lösung« der kurdischen Frage hat das Potential, das Land in einen Flächenbrand zu verwandeln. Und die Bedrohung durch jihadistische Terrorbanden ist auch nicht geringer geworden. In einer solchen Situation könnte die Regierungsbeteiligung der CHP einen Ausweg aus dem Schlammassel schaffen – nicht nur für die herrschenden Klassen, sondern auch die beherrschten Klassen, die demokratischen Opposition und vor allem für das kurdischen Bevölkerung, denn in dem wiederhergestellten parlamentarischen System würden sich neue Chancen für emanzipatorische Kämpfe, Demokratisierung und Frieden ergeben. Die kurdische Befreiungsbewegung, das Linksbündnis HDP und andere linke-demokratische Kräfte der Türkei stehen vor einer gewaltigen Aufgabe: die Herausforderung zu meistern, ein breites gesellschaftliches Bündnis für Demokratie, soziale Gerechtigkeit und für die friedliche Lösung der kurdischen Frage aufzubauen. Die nächsten Monate werden zeigen, ob die demokratische Opposition dieser Aufgabe gewachsen ist und welchen Weg die Türkei nehmen wird.
***
[1] Siehe: https://www.akparti.org.tr/site/haberler/ak-partinin-uye-sayisi-10-milyona-yaklasmis-vaziyette/83323#1 (Türkisch).
[2] Bekannte des Autors berichten von einem großen Druck in den Behörden und Unternehmen. Die Mitarbeiter*innen werden gezwungen (»das ist ein Befehl, keine Bitte«), an den Kundgebungen mit Familienangehörigen teilzunehmen. Es reicht ein Vorwurf, dass man ein »Gülenist« ist aus, um fristlos gekündigt zu werden.
[3] Siehe: Murat Çakır, »Die Pseudodemokraten – Türkische Lobbyisten, Islamisten, Rechtsradikale und ihr Wirken in der Bundesrepublik«, GDF-Publikationen, Düsseldorf 2000 (vergriffen). Siehe auch: http://www.kozmopolit.com/haziran03/Dosya/Dosya.html
[4] Siehe auch: Errol Babacan, »Der fingierte Putsch – Gottes Segen«, in: Infobrief Türkei, http://infobrief-tuerkei.blogspot.com/2016/07/der-putschversuch-dilettantisch.html.
[5] Die Gülen-Bewegung wird auch »Hizmet« genannt. Das bedeutet auf Deutsch »Dienst«. Zwar wird damit gemeint, dass dieser Dienst Allah gilt, aber nachweislich stand die Bewegung auch unter dem Dienst der CIA. Die ehemalige FBI-Mitarbeiterin Sibel Edmonds hat viele Details darüber veröffentlicht.
[6] Siehe: Murat Çakır, »Autoritärer Neoliberalismus und Islamisierung – Die Charakterzüge der „neuen Türkei“«, RLS-Papers: http://www.rosalux.de/fileadmin/rls_uploads/pdfs/rls_papers/Papers_02-15_AutoritaererNeolib.pdf.
[7] Siehe: Murat Çakır, »Der Putschversuch: „Dilettantisch“ oder „für Erdoğan“?«, in: http://murat-cakir.blogspot.com.tr/2016/07/der-putschversuch-dilettantisch-oder.html.
[8] Siehe: Nick Brauns, »Wölfe im Schafspelz«, in: http://civaka-azad.org/woelfe-im-schafspelz/.
[9] Siehe: Günter Seufert, »Überdehnt sich die Bewegung von Fetullah Gülen? Eine türkische Religionsgemeinde als nationaler und internationaler Akteur«, SWP-Studie Dezember 2013, https://www.swp-berlin.org/fileadmin/contents/products/studien/2013_S23_srt.pdf.
[10] Siehe: http://www.faz.net/aktuell/politik/inland/deutschland-oezdemir-fordert-transparenz-von-guelen-bewegung-14375215.html.
[11] Siehe: Bericht der Tageszeitung Dünya, http://www.dunya.com/ekonomi/ekonomi-diger/proje-bazinda-super-tesvik-modeli-geliyor-307860h.htm (Türkisch).