Donnerstag, 1. September 2016

»Noble Einsamkeit« und strategische Prioritäten

Über die vermeintlichen Verwerfungen in den deutsch-türkischen Beziehungen
Nachdem der Putschversuch die Machtverhältnisse in der Türkei durcheinander gewirbelt hat, versucht Erdoğan, mit Unterstützung der bürgerlichen Opposition im Inland die strategischen Partnerschaften zu erneuern. Die Rechnung könnte durchaus aufgehen, denn das ›erneuerte‹ Regime ist für alle Bündnispartner attraktiv.

Wer heutzutage die Berichterstattung der Medien über die Türkei verfolgt, wird sich des Eindrucks nicht erwehren können, dass die Bundesregierung und somit Europa dem erpresserischen Handeln eines selbstherrlichen Despoten – wie der türkische Staatspräsident Erdoğan zuweilen bezeichnet wird – ohnmächtig gegenübersteht. Die »erratische Regierung« (Rainer Herrmann, FAZ) sei dabei, die Türkei ins Autoritäre abdriften zu lassen. Damit stünde die Flüchtlingsvereinbarung auf der Kippe – »eine Vereinbarung, die dem wohlverstandenen Interesse beider Seiten dient, wozu ausdrücklich auch die humanitären und menschenrechtlichen Ansprüche an den Umgang mit Flüchtlingen und Asylbewerbern« gehöre, so die FAZ.
Ähnliches ist auch von kritischen Stimmen aus der Türkei zu hören: so schreibt z.B. Behlül Özkan, dass »die Beziehungen zwischen Deutschland und der Türkei innerhalb eines Jahres zum Zerreißen gespannt« seien, und spricht von einem »Merkel-Erdoğan-Duell«. Dieser Eindruck verschärft sich durch die harsche Rhetorik, gar die rassistischen Tiraden des türkischen Staatspräsidenten gegenüber Bundestagsabgeordneten sowie durch die kritischer werdenden Töne aus Berlin. Während der Bundestagspräsident in »unmissverständlicher« Empörung die »Verbalattacken Erdoğans mit deutlichen Worten zurückweist« und der Präsident des Europäischen Parlaments, Martin Schulz, mit Blockade der Visafreiheit droht, tritt Hansjörg Haber, der EU-Botschafter in der Türkei, zurück. Regierungsnahe Medien der Türkei beleidigen Merkel mit Hitler-Vergleichen. Gute Beziehungen sehen anders aus, müsste man meinen.
Aber sind die Beziehungen tatsächlich so schlecht? Ist die vor mehr als hundert Jahren geschlossene, mit beiderseitigem beharrlichem Eifer betriebene deutsch-türkische Waffenbrüderschaft nun am Ende? Spitzt sich das Ganze wirklich zu einem »Merkel- Erdoğan-Duell« zu? Oder ist es vielleicht nur eine vom Störenfried Erdoğan verursachte vorübergehende Beziehungskrise? Was sind die Gründe, die in den deutsch-türkischen Beziehungen zu solchen Verwerfungen geführt haben?
Die unverzichtbare Bedeutung der Türkei für das deutsche Kapital
Derselbe deutsche ›Qualitätsjournalismus‹, der gegenüber Erdoğan mit Häme nicht spart, ist vollen Lobes für die türkische Flüchtlingspolitik und für die geopolitische Schlüsselposition der Türkei. Noch Ende April bedankte sich die Bundeskanzlerin für »den allergrößten Beitrag der Türkei bei der Bewältigung der Flüchtlingskrise«. Der EU-Ratspräsident würdigte die Türkei als »heute das beste Beispiel für die Welt insgesamt, wie wir mit Flüchtlingen umgehen sollten«, weshalb keiner das Recht habe, »belehrend auf die Türkei einzuwirken, wenn es darum geht, wie man sich richtig verhält«. Schützenhilfe kam auch vom Bundesinnenminister, der nicht will, dass »wir der Schiedsrichter beim Thema Menschenrechte für die ganze Welt sein« sollen, sowie vom Bundespräsidenten, der betonte, »dass Millionen von Flüchtlingen in diesem Land ein sicheres Leben gefunden haben«.
Den Medien und der verantwortlichen Politik dürfte nicht entgangen sein, dass in dem »größten Aufnahmeland«, was ja zahlenmäßig zutrifft, Millionen Flüchtlingen grundlegende Rechte verwehrt werden. Sie haben keinen gesicherten Zugang zu medizinischer Versorgung, Bildung und Sozialleistungen. Ihnen dürfte auch bekannt sein, dass die Türkei »den humanitären und menschenrechtlichen Ansprüchen an den Umgang mit Flüchtlingen« und Schutzsuchenden nachweislich nicht genügt. Selbst das wiederholte Erschießen von Flüchtlingen an der längst gesperrten syrisch-türkischen Grenze ist nicht mehr zu verheimlichen.
Das alles zu ignorieren ist aber keinesfalls Ausdruck  politischer Naivität. Im Gegenteil, diese Ignoranz ist das Ergebnis strategischer Prioritäten der Bundesrepublik, die als zentrale Ordnungsmacht in Europa den »ungehinderten Zugang zu Märkten und Rohstoffen in aller Welt« (Verteidigungspolitische Richtlinien der Bundesregierung) erhalten will. Für diese Ziele hat die Türkei eine unschätzbare Bedeutung und in Anbetracht dessen ist für die Bundesregierung die humanitäre Behandlung von Flüchtlingen zweitrangig, ja gar verzichtbar.
Es genügt ein Blick auf die Weltkarte, um die geopolitische Schlüsselposition der Türkei zu verstehen: Sie ist die einzige Landbrücke zwischen Schwarzem Meer und Mittelmeer, über den die Märkte, Energiequellen und Ressourcen im Kaukasus, Nahen und Mittlerem Osten sowie in Zentralasien erreicht werden können. Sie ist Herrin der beiden Meerengen des Marmarameeres, den die russischen Seestreitkräfte als Zugang zum Mittelmeer und darüberhinaus benötigen. Sie ist einer der weltweit wichtigsten Energieumschlagplätze. Das kann für die eigene »Energiediversität«, sprich für die Unabhängigkeit vom russischen Erdgas, dienlich sein. Sie ist ein verlässlicher NATO-Partner, der mit seiner modernisierten Militärmaschinerie die beabsichtigte »Neuordnung des Nahen und Mittleren Ostens« überwachen kann. Der militärisch-industrielle Komplex der Türkei wurde mit Hilfe deutscher Rüstungsexporte hochgezüchtet. Als Lizenznehmerin deutscher Rüstungskonzerne ist sie für die Umgehung der deutschen Rüstungsexportrichtlinien am besten geeignet. Als billiger Produktionsstandort für deutsche Güter sowie als Markt verspricht die Türkei mit ihrer jungen, aufstrebenden Bevölkerungsstruktur hohe Profite. Und nicht zuletzt ist die Türkei das Land, dem die Aufgabe zufällt, das »historisch beispiellose, ambitionierte, aber im schönsten Sinne eben auch europäische Unterfangen« (FAZ), nämlich das EU-Grenzregime, aufrecht zu erhalten.
Kurz: In der Kontinuität der bewährten deutsch-türkischen Waffenbrüderschaft wäre die Bundesregierung die Letzte, die die Unterstützung der türkischen Regierungen beenden würde – trotz der Schwierigkeiten mit Erdoğan. Weder die von der Bild-Zeitung heraufbeschworene »Eiszeit« in den Beziehungen oder die gegenseitigen Belehrungen im Zusammenhang mit der Völkermord-Resolution des Deutschen Bundestages, noch die Forderungen einiger bundesdeutscher Regierungspolitiker »die deutschen Tornados von der türkischen Luftwaffenbasis Incirlik abzuziehen« oder Erdoğans Vorwürfe an die deutsche Seite, dass »Deutschland aus Neid an den Erfolgen der Türkei kurdische Terroristen unterstütze«, sollten darüber hinweg täuschen, dass die deutsch-türkische Partnerschaft wie »ein Fels in der Brandung« steht.
Es gibt mehrere Tatsachen, die das belegen: Als erstes sind die deutschen Tornados in der Türkei zu nennen. Trotz diplomatischer ›Missstimmungen‹ steht der Aufbau eines permanenten Stützpunktes für deutsche Tornados und Airbus-Tankflugzeuge innerhalb der türkischen Luftwaffenbasis Incirlik für knapp 65 Mio. Euro weiterhin auf der Tagesordnung. Auch wenn die türkische Regierung Bundestagsabgeordneten den Besuch der Luftwaffenbasis verweigert hat, so ist weder von deutscher, noch von türkischer Seite erklärt worden, dass es irgendeine Planänderung in dieser Sache gibt. Während die AKP-Regierung die weitere Präsenz der Bundeswehr in der Türkei nicht problematisiert, sieht das Bundesverteidigungsministerium in dem geplanten Stützpunkt eine »solide Grundlage für den dauerhaften Einsatz der Bundeswehr«. Ebenso wenig erkennt General Warnecke, Abteilungsleiter Strategie und Einsatz, eine »Gefährdung der Kooperation«, was durch die von einem deutschen Admiral in der Ägäis geführte griechisch-türkische Mission »zur Eindämmung der Schleuser-Kriminalität« belegt werde.
Weiterhin steht die Bundesregierung in Sachen »Flugverbotszone in Nordsyrien«, also bei den Bestrebungen der Türkei den Zusammenschluss der kurdischen Kantone Cizire und Kobane mit Afrin zu verhindern, an der Seite der türkischen Regierung. Seit Februar 2016 fordert die Bundeskanzlerin die Einrichtung einer solchen Flugverbotszone. Für die Sicherheit einer solchen Flugverbotszone wurden seinerzeit die deutschen Patriot-Systeme in der Türkei stationiert. Der jetzige völkerrechtswidrige Einmarsch türkischer Streitkräfte im Verbund mit islamistischen Gruppen wird von der Bundesregierung nicht kritisiert, obwohl Panzer aus deutscher Produktion zum Einsatz kommen. Im Gegenteil, die Bundesregierung drückt ausdrücklich ihre Zustimmung und »Sympathie« für die türkischen Operationen aus. Insofern war es keiner diplomatischen Zurückhaltung geschuldet, dass die Bundeskanzlerin in ihrem ›Sommerinterview‹ am 28. August 2016 in der ARD keinen einzigen Kritikpunkt ansprach, obwohl sie explizit dazu befragt wurde.
Das zeigt: Die Verwerfungen in den deutsch-türkischen Beziehungen sind nur scheinbare, mitnichten findet ein »Merkel-Erdoğan-Duell« statt. Wie jede Kollaboration folgt der Prozess der deutsch-türkischen Partnerschaft gewissen Regeln, in der die Interessenlage ambivalent sein kann. Es liegt in der Natur dieser Kollaboration, dass auch der kleinere Partner sich situationsabhängig durchsetzen und gerade in Krisenzeiten den Takt vorgeben kann – wie in der sogenannten Flüchtlingskrise. Das beeinträchtigt jedoch keineswegs die langfristig ausgelegte Partnerschaft: Die gegenseitigen Abhängigkeiten bleiben erhalten [1].
In der Flüchtlingsfrage sitzen Deutschland und die EU ohnehin am längeren Hebel. Im Umgang mit der Flüchtlingsproblematik wird die Militarisierung des EU-Grenzregimes weiter getrieben und eine zusätzliche Rechtfertigung für Auslandseinsätze der Bundeswehr geschaffen. Sowohl das EU-Türkei-Abkommen als auch der »Heranführungsprozess an die EU« sind letztlich Mittel, um strategische Interessen der deutschen Regierung durchzusetzen. Denn, wie Günter Seufert von der regierungsnahen Stiftung Wissenschaft und Politik zurecht unterstreicht, kann die Türkei als Beitrittskandidatin an der Seite der Bundesrepublik gehalten und die außenpolitische Kooperation erleichtert werden. Aber auch für das AKP-Regime gilt, an der Seite Deutschlands zu stehen – ohne die Unterstützung der EU und insbesondere ohne die Zollunion mit der EU läge die türkische Wirtschaft am Boden. Allein die wirtschaftlichen Realitäten offenbaren eine enge Verquickung mit der BRD: Mit einem Warenwert von 13,2 Mrd. Dollar im Jahr 2015 ist die BRD das Exportland Nummer 1 für die Türkei.
Dennoch gibt es auch Interessenkonflikte zwischen den ›Waffenbrüdern‹. Wie die Obama-Administration scheint auch die Bundesregierung sich eine ›AKP ohne Erdoğan‹ zu wünschen. Die Weigerung Erdoğans, sich den strategischen Partnern völlig zu unterwerfen und Souveränitätsrechte abzugeben, ist der Hauptgrund an der Erdoğan-kritischen Haltung der Bundesregierung. Hinzu kommt noch das Festhalten der Bundesregierung an der Gülen-Bewegung als »Dialog-Partner«. Erdoğan und die AKP-Regierung wissen zu gut, dass Deutschland zu einem logistischen Zentrum für das weltweite Gülen-Netzwerk geworden ist und die Bundesregierung in der Gülen-Bewegung einen potentiellen Kooperationspartner erkennt. Trotz mehrfacher türkischer Aufforderungen weigert sich die Bundesregierung gegen die kriminelle Geheimorganisation von Fetullah Gülen vorzugehen, was wiederum Erdoğan erzürnt.
Die Interessenkonflikte ändern aber nichts an der Ausweitung der Kooperation deutscher Rüstungskonzerne mit der türkischen Militärindustrie. Einige Beispiele: Während der europäische Konzern Airbus in Kooperation mit den türkischen Rüstungskonzernen TAI (Militärflugzeuge) und Roketsan (Raketenbau) die Produktion in der Türkei fortsetzt, will Rheinmetall gemeinsam mit dem staatlichen Rüstungskonzern MKEK Waffenmunition produzieren und mit dem BMC-Konzern, der dem Erdoğan-Intimus Ethem Sancak gehört, gepanzerte Fahrzeuge bauen. Der neue türkische Panzer »Altay« soll mit einem Dieselmotor von MTU Friedrichshafen und einer 120 mm Glattrohrkanone von Rheinmetall ausgestattet werden.
Die »Neue Türkei«: außenpolitisches Desaster
Bis zum gescheiterten Putschversuch am 15. Juli 2016 wurde Erdoğan nicht müde, die »Realität der neuen Türkei« zu betonen und die verfassungsrechtliche Verankerung eines Präsidialsystems einzufordern. Erdoğan sagte, dass das Land wie eine Aktiengesellschaft zu führen sei und die Gerichte die »großen Investitionen in die Zukunft der Türkei nicht behindern« dürften. Deshalb sei ein Präsidialsystem »türkischer Art« das Beste für die türkische Nation. Offensichtlich war, dass dieses Präsidialsystem nichts anderes als eine offene Diktatur sein würde, aber nicht weil Erdoğan es so will oder sein »Team, die Welt mit Bauernschläue bezwingen möchte« (Behlül Özkan), sondern weil die Sicherung der AKP-Macht die Installation eines diktatorischen Sicherheitsregimes erforderlich machte.
Eine kurze Betrachtung der Ergebnisse der türkischen Außenpolitik – zunächst als »strategische Tiefe« und »Null-Probleme-Politik«, dann als »noble Einsamkeit« bezeichnet – verdeutlicht dies. Nach dem Zickzack-Kurs mündete das außenpolitische Abenteuer des Regimes in ein Fiasko. Im Telegrammstil sahen die Ergebnisse folgendermaßen aus: Niederlage in der Syrienpolitik; Vertiefung der alten Konflikte mit Armenien, Griechenland und Zypern; Spannungen mit dem Mullah-Regime in Iran und der irakischen Zentralregierung; vollständiger Einflussverlust in der Palästina-Frage – weder Israel, noch die Fatah oder Hamas vertrauen der AKP –; bei ihren Schritten im Nahen Osten sehen die USA die Interessen des AKP-Regimes nur als zweitrangig an; massive Konflikte mit dem größten Energielieferanten Russland und Verlust der Einflussmöglichkeiten im Kaukasus sowie in den Ländern Zentralasiens.
Außenpolitisch war die Türkei, abgesehen von den saudischen und katarischen Despoten, isoliert. Folglich sah sich das Regime in einer Position der »noblen Einsamkeit«. Offensichtlich unterlagen Erdoğan und seine AKP-Regierung dem Trugschluss, die Krisen in Europa und der militärische Rückzug der USA aus dem Nahen Osten eröffneten eine große Chance für die Etablierung einer neoosmanischen Hegemonie in der Region. Diese verblendete Wahrnehmung der Machtverhältnisse und der politischen Realitäten konnte jedoch nur für kurze Zeit überdecken, in welchem Maße die Türkei von den USA und der EU abhängig ist.
Realitätsblind verhielt sich das Regime mit Blick auf die Zerfallserscheinungen im Irak und in Syrien. Ankara war davon überzeugt, dass infolge der hiermit verbundenen Grenzverschiebungen eine durch die »türkisch-kurdische Allianz« zusätzlich gestärkte Türkei »die Führungsposition innerhalb der sich entwickelnden sunnitischen Achse« übernehmen könnte (Arzu Yilmaz) [2]. Weit gefehlt: Statt der erhofften Domestizierung der kurdischen Befreiungsbewegung durch den sogenannten »Friedensprozess« steht das AKP-Regime in Syrien nun nicht nur der kurdischen Bewegung, sondern nahezu allen beteiligten Akteuren konfrontativ gegenüber.
Nachdem der Putschversuch die Machtverhältnisse in der Türkei durcheinander gewirbelt hat, versucht Erdoğan, der die bürgerliche Opposition aus CHP und MHP als Unterstützer gewinnen konnte, mit einem breiteren parlamentarischen Rückhalt die strategischen Partnerschaften zu erneuern. Dafür hat er sogar – vorerst – auf das Präsidialsystem verzichtet und ist notgedrungen bereit, die CHP und die MHP an der Macht zu beteiligen. Die von Erdoğan angekündigte »Neustrukturierung des Staates« kann ohne die bürgerliche Opposition nicht bewerkstelligt werden. Gemeinsam mit seinen autoritär-kemalistischen und ultranationalistischen Koalitionären arbeitet er daran, im Innern mit einer von einer großen parlamentarischen Mehrheit getragenen Regierung Stabilität zu generieren und die außenpolitische Isolation zu brechen. Damit wird auch ein neues Angebot für die Erneuerung der strategischen Partnerschaften mit dem Westen formuliert.
Neubegründung strategischer Partnerschaften im wechselseitigen Interesse
Die Rechnung könnte durchaus aufgehen, denn das ›erneuerte‹ Regime ist für die nationalen wie auch internationalen Bündnispartner attraktiv: Auf der Grundlage eines antikurdisch-nationalistischen Konsens werden die bürgerlichen Oppositionsparteien einbezogen und zugleich die innenpolitische Legitimität konsolidiert, die Offenheit gegenüber globalen Kapitalflüssen wird erhalten, die neoliberale Wirtschaftspolitik forciert umgesetzt, während die Kämpfe der Lohnabhängigen und andere Widerstände unterdrückt werden. Es entsteht ein Regime, das mit der autoritären Regierungsführung die erforderliche ›Stabilität‹ sichern kann und nicht davor zurückscheut, mit paramilitärisch umgebauten Polizeikräften und der militärischen Gewaltmaschinerie sowohl gegen die eigene Bevölkerung als auch, wenn nötig, gegen die der Nachbarländer vorzugehen. Ein Regime also, das bereit ist, als strategischer Partner und schlagkräftige Vorhut imperialistischer Mächte zu fungieren, die Interessen nationaler wie internationaler Monopole zu schützen und als williger Gendarm für die Neuordnung des Nahen und Mittleren Ostens zu dienen. Und als Bonbon dazu: die geostrategisch, geopolitisch und geoökonomisch unschätzbare Lage des Landes. Ohne Frage: Geht es um den freien Zugang zu Märkten und Energieressourcen in der Region und um die Kontrolle der Transportwege, spielt die Türkei eine Schlüsselrolle.
Das Regime baut auf diese Schlüsselrolle und auf die weiterhin vorhandene Unterstützung aus großen Teilen der türkischen Bevölkerung. Doch diese Unterstützung ist brüchig: Die privaten Haushalte sind mittlerweile mit über 150 Mrd. Dollar verschuldet (2003: 4,5 Mrd. Dollar), so dass im Schnitt rund 70 Prozent der Gehälter bei den Banken verbleiben. Eine wirtschaftliche Krise, die nicht auszuschließen ist, würde diese Unterstützung auf die Kernbasis schrumpfen lassen. Die Wahlergebnisse vom 7. Juni 2015 (also der ersten der beiden Wahlen von 2015) haben das gezeigt. Die regierungsseitig geförderte gesellschaftliche Spaltung gefährdet die innere Stabilität, was nur durch immer autoritärere Maßnahmen gesichert werden kann.
Das AKP-Regime hat sich in gefährliche Gewässer und größere Abhängigkeiten manövriert. Der Putschversuch hat gezeigt, dass die AKP unter einem immensen außenpolitischen Druck steht. Jetzt gerät die herrschende türkische Politik bei dem Versuch, sich mit einem attraktiven ›Angebot‹ an die imperialen Mächte aus der abhängigen Lage zu befreien, in Interessenkonflikte zwischen der Führungsmacht USA und der Ordnungsmacht Deutschland. Wer allerdings in dieser Konstellation erwartet, dem Regime in der Türkei werde Einhalt geboten, irrt gewaltig. Es bleibt nur die Hoffnung auf eine wachsende, den kurdischen Osten und den türkischen Westen sowie verstreute Widerstandsherde verbindende gesellschaftliche Gegenmacht von unten. Noch ist die Aussicht auf eine solche Kraft gering. Aber wie heißt es doch: Die Hoffnung stirbt zuletzt.
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[1] Zu den deutsch-türkischen Beziehungen siehe auch: Mehmet Okyayuz; Uğur Tekiner: Hundertjährige Allianz? Türkisch-deutsche Beziehungen im Spannungsfeld neuer-alter Interessenpolitik. http://infobrief-tuerkei.blogspot.de/2016/08/hundertjahrige-allianz.html

[2] Gescheiterter Friedensprozess und Bürgerkrieg in der Türkei. In: Wissenschaft & Frieden, Dossier Nr. 82, Mai 2016. http://wissenschaft-und-frieden.de/seite.php?dossierID=086