Freitag, 18. November 2016

Die faschistoide Vorfeldorganisation

Von Nick Brauns / Murat Çakır
Über die Gülen-Bewegung und ihre Verstrickung in den gescheiterten Putschversuch in der Türkei
In den bürgerlichen Medien der BRD, dem sog. »deutschen Qualitätsjournalismus« finden sich seit einigen Jahren kritische Berichte über das weltweite Netzwerk der Gülen-Bewegung [1]. Aber gerade nach dem gescheiterten Putschversuch in der Türkei vom 15. Juli 2016 kam die Bewegung stärker in den Focus der Berichterstattung. Seit der Niederschlagung der Putschisten erhebt die türkische Regierung schwere Vorwürfe gegen die Gülen-Bewegung und fordert von den USA nachdrücklich die Auslieferung ihres Staatsfeindes Nr. 1, des Predigers Fetullah Gülen. Auch von der Bundesregierung erwartet die Türkei die strafrechtliche Verfolgung von Gülen-Leuten und das Verbot deren Organisationen in der BRD. Doch die Bundesregierung verhält sich in dieser Frage auffallend zurückhaltend und moniert stattdessen die scheinbar seit langem geplante »Hexenjagd« des AKP-Regimes.

Inzwischen steht es außer Frage, dass die Gülen-Bewegung in den dilettantisch vorbereiteten und in der Folge gescheiterten Putschversuch verwickelt ist. Aber ob der 75-jährige Fetullah Gülen der eigentliche Drahtzieher dahinter sei, erscheint als sehr zweifelhaft. Dennoch; auch die Autoren dieser Zeilen, die sich seit Jahren mit dieser Bewegung beschäftigen, sind von dem Ausmaß der erfolgreichen Infiltration des türkischen Staatsapparates durch die Gülen-Bewegung überrascht. Und es wäre aufgrund der Entwicklungsgeschichte dieser Bewegung nicht verwunderlich, dass trotz der penibel durchgeführten Säuberungsaktionen des AKP-Regimes weitere Gülenisten in den Apparaten des türkischen Staates weiterhin konspirativ tätig sind.
Da in den letzten Monaten sehr viel und detailliert über die Gülen-Bewegung publiziert wurde, wollen wir in diesem Artikel, auch um Redundanzen zu vermeiden, uns mit folgenden Fragen beschäftigen: Was sind die eigentlichen Hintergründe der Verwicklung der Gülen-Bewegung in den Putschversuch? Warum schützen imperialistische Mächte, vor allem die USA und die BRD weiterhin diese Bewegung, obwohl ihr strategischer Partner, das AKP-Regime deren Zerschlagung fordert? Und nicht zuletzt, welche Rolle spielte und spielt die Gülen-Bewegung in der Umsetzung von imperialistischen Strategien?
»Segen Gottes«?
Einige Tage nach dem 15. Juli erklärte der türkische Staatspräsident Erdoğan, dass dieser Putschversuch für sie ein »Segen Gottes« [2] sei. Nun habe man die Möglichkeit erhalten, »die Fetullah Gülen Terrororganisation [FETÖ] völlig zerschlagen zu können«. Im Bezug auf die Machterhaltungsinteressen kann der gescheiterte Putschversuch durchaus als ein »Segen Gottes« bezeichnet werden, zumal das AKP-Regime mit dem Instrument des landesweiten Ausnahmezustandes sich von allen ihren Gegnern zu entledigen versucht. Aber auch die faschistoide Gülen-Bewegung war für Erdoğan und seine AKP ein »Segen Gottes«. Bis 2010 war Fetullah Gülens kriminelles Netzwerk eine wichtige Stütze des AKP-Regimes.
Immerhin hatte die Gülen-Bewegung ein weltweit agierendes Netzwerk von Medien, Privatschulen, Stiftungen, Wirtschaftsunternehmen und anderen Organisationen aufgebaut und war dabei seit 40 Jahren den türkischen Staat zu infiltrieren. Antikommunistisch, antikurdisch, rassistisch-nationalistisch und mit einem Islamverständnis, das an Absurdität kaum zu übertreffen ist, hatte sich die Gülen-Bewegung, die nie mit einer offiziellen Zentrale auftrat und stets im Verborgenen agierte, sich die Aufgabe gegeben, eine »goldene Generation« aufzuziehen, die in die »Venen und Arterien des Staates eindringen und diesen übernehmen« sollte. Noch in den 1990er Jahren sagte Gülen, »Ihr müsst in die Arterien des Systems eindringen, ohne dabei bemerkt zu werden, bis ihr in alle Schaltstellen der Macht vorgedrungen seid. (...) Ihr müsst bis zu dem Moment warten, da ihr genug seid und die Lage reif ist, bis wir die gesamte Welt auf unsere Schultern nehmen und tragen können. (...) Ihr müsst geduldig warten, bis ihr alle staatliche Macht in den Händen haltet«. Seine Anhänger sollten sich »verstellen, wenn nötig im Ramadan Raki trinken und abwarten, bis ihre Zeit gekommen ist« so Gülen weiter. Bis dahin stellte sich die Gülen-Bewegung in den Dienst [3] verschiedener Regierungen und konservativer Parteien gleichzeitig. So fand die Bewegung Unterstützer wie den ehemaligen Staatspräsidenten Süleyman Demirel oder den ehemaligen Ministerpräsidenten und bekennenden Laizisten Bülent Ecevit, die sich national wie international für die Gülen-Bewegung persönlich einsetzten.
Mit der Gründung der AKP, als eine Koalition unterschiedlicher sunnitisch-konservativer Kräfte sah die Gülen-Bewegung ihre größte Chance für die Verwirklichung ihrer Unterwanderungsstrategie. So wurde die Bewegung zu einem tragenden Element der AKP. Aufgrund der Tatsache, dass die kemalistischen Eliten lange Zeit den Staatsapparat vor offen islamistisch auftretenden Personal schützen konnten und es verhinderten, dass Islamisten Karriere im Staatsapparat machen konnten, verfügte Erdoğan über wenig erfahrenes Personal für die Besetzung der entscheidenden Stellen. Die Gülenisten hatten aber schon längst in verschiedenen Ministerien und insbesondere im Polizei- und Staatsapparat ihre Leute untergebracht. So konnte Erdoğan seinen Feldzug gegen die kemalistischen Eliten im Staat beginnen. Gülens loyale Verwaltungskräfte, Richter und Staatsanwälte wurden von der AKP nach und nach an Schaltstellen gebracht. In den Entscheidungspositionen der Kommunalverwaltungen, Ministerien, des Justizapparates, des Geheimdienstes und der Polizei wurde das kemalistische bzw. laizistische Personal durch Gülenisten ersetzt. Die »Zeit« für Gülen-Bewegung war gekommen und sie konnte ihr Netzwerk ausbauen.
Die Gülen-Bewegung war für Erdoğan wirklich wie ein »Segen Gottes«, denn mit ihrer Hilfe konnte er seinen Feldzug gegen die Kemalisten erfolgreich führen und die seitens der USA geförderte Neustrukturierung des türkischen Staates vollenden. Die kemalistische Generalität und die Staatsbürokratie konnten mit Inhaftierungen, konstruierten Straftatbeständen, sog. »Ergenekon«-Schauprozessen und Haftstrafen domestiziert werden. Es stellte sich heraus, dass die als Gülenisten bekannten Staatsanwälte und Richter bei Anklagen und Hafturteilen gegen die Generäle besonders eifrig waren, so dass sogar Erdoğan sich über »unangemessene Behandlung« beschweren musste.
Aber Erdoğan brauchte die Gülen-Bewegung gerade in seinem Kampf gegen die kurdische Befreiungsbewegung, insbesondere gegen den legalen politischen Teil. Während die paramilitarisierten Spezialteams der Polizei und der Gendarmerie, die vorwiegend von Gülenisten kommandiert wurden, in den kurdischen Gebieten der Türkei wüteten, setzten Gülens Staatsanwälte und Richter mit den sog. »KCK-Prozessen« die Willkürjustiz und das Feindstrafrecht par excellence um. [4] Nach dem Verfassungsreferendum von 2010, das von Erdoğan durchgesetzt wurde, konnte die Gülen-Bewegung ihren Einfluss im Justizapparat gänzlich ausweiten.
Damals ließ Erdoğan die Bewegung gewähren. Erst später, als der Machtkampf im Staat begonnen hatte, beklagte er sich: »Wir haben euch alles gegeben, was ihr wolltet«. Inzwischen fühlte sich die Bewegung so stark, dass sie die gesamte Macht im Staat beanspruchte. So gerieten zwei Strömungen des politischen Islams in der Türkei, die jeweils die völlige Unterwerfung unter ihre Macht einforderten, aneinander. Die ersten Risse zwischen den Koalitionären waren nach dem völkerrechtswidrigen israelischen Angriff auf das Gaza-Flottillen-Schiff »Mavi Marmara« im Mai 2010 entstanden. Der von dem proisraelischen Rüstungslobby »Aipac« unterstützte Gülen kritisierte Erdoğan persönlich, weil er es zugelassen und die Organisatoren ermutigt habe, ohne die Einwilligung der israelischen Behörden eine solche Aktion zu starten. Aber die eigentliche Krise trat im Mai 2012 zutage, als ein Gülen nahestehender Staatsanwalt versuchte, den Geheimdienstchef Hakan Fidan zwangsweise anzuhören.
Ein wichtiger Grund dafür war die strategische Differenz in der kurdischen Frage. Während Erdoğan und andere in der AKP keine Probleme in der kurdischen Identität sahen – solange es um sunnitisch-konservativen Kurden ging – und mit dem sog. »Friedensprozess« eine »kurdisch-türkische Allianz«, die dem hegemonialen AKP-Projekt in der Region Auftrieb geben sollte, verfolgten, sabotierte die Gülen-Bewegung mit aller Macht den »Friedensprozess«. Die Gülen-Bewegung verfolgte ein assimilatorisches Konzept und befürchtete durch die mögliche Annäherung der kurdischen Bewegung, ihren Einfluss in Kurdistan zu verlieren.
Inzwischen wird in der kurdischen Befreiungsbewegung nicht mehr ausgeschlossen, dass z. B. die Pariser Morde an drei kurdischen Aktivistinnen, unter ihnen Sakine Cansız, eine der PKK-Gründer*innen, auf das Konto der Gülen-Bewegung gehen. Die Bewegung hatte schon mit mehreren extralegalen Hinrichtungen unter Beweis gestellt, dass sie über Leichen geht. Sie pflegte enge Kontakte zur neofaschistisch-islamischen »Großen Einheitspartei« (BBP) von Muhsin Yazıcıoğlu. [5] Es ist kein Zufall, dass der Mörder des armenischen Journalisten Hrant Dink oder die Mörder der Christen in Malatya BBP-Anhänger waren. Während BBP-Mitglieder vor allem in den Polizeidienst gestellt wurden, wurde vor allem Mitgliedern der BBP-Jugendorganisation »Alperenler« vorgeworfen, dass sie quasi als der terroristische Arm der Bewegung fungieren. Diese Morde sollten die Existenz der Geheimloge Ergenekon beweisen und die AKP spielte das Spiel gerne mit.
Erdoğans Regierung ging zum Angriff auf die Gülen-Bewegung über und beschloss ein Gesetz, der vorsah, die privaten Unterrichtshilfeinstitute – meist in der Hand der Gülen-Bewegung – zu verbieten. Die Gülen-Bewegung sah das als einen Angriff auf eines ihrer Lebensader, da diese Institute und Privatschulen zur Kaderrekrutierung benötigt wurden. Der Konflikt eskalierte: es wurde öffentlich, dass Gülen-Leute, die der Abhörabteilung der türkischen Polizei vorstanden, den Geheimdienstchef, Erdoğan persönlich, den Außenminister, ausländische Botschaften sowie den Armeechef abgehört und die Protokolle ins Ausland verschafft haben. Und am 17. Dezember 2013 platzte die richtige Bombe: bei Polizeirazzien wurden hunderte Millionen Dollar und Euro in den Privatwohnungen von Angehörigen der AKP-Minister und einigen Bürokraten gefunden. In den Medien wurden Abhörprotokolle und Fotos veröffentlicht, die die Verwicklung von Ministern, Bürokraten und Unternehmern in Korruptionen nachwiesen. Der Korruptionsskandal, in den Erdoğan, seine Familie und mehrere seiner Minister verwickelt waren, schockierte die Öffentlichkeit.
Die gegenseitigen Angriffe verschärften sich. Erdoğan versuchte durch Gesetzesänderungen und Personalentscheidungen die Gülen-Leute aus deren Ämtern zu verjagen. Die Bewegung veröffentlichte weitere Details der Korruptionen und ließ ein Waffentransport des türkischen Geheimdienstes an die »IS« in Syrien auffliegen. Am 25. Februar 2014 wurden Mitschnitte aus einem Telefonat Erdoğans mit seinem Sohn Bilal veröffentlicht, in dem um das Verschieben von mehreren Hundert Millionen Dollar ging. Die Terrororganisation »Parallel-Staat« war geboren. Nun wurde Fetullah Gülen Staatsfeind Nr. 1 und seine Bewegung wurde als »FETÖ« verfolgt.
Trotz der Korruptionsvorwürfe konnte Erdoğan die Krise meistern. Ende März 2014 gewann die AKP die Kommunalwahlen und wurde mit 44 Prozent die stärkste Kraft. Durch Änderungen im »Hohen Rat der Richter und Staatsanwälte« und weiteren Maßnahmen sowie Verhaftungen wie im Dezember 2014 sah es so aus, als ob die Gülen-Bewegung im Staat ausgeschaltet war. Die Tatsache, dass Erdoğan trotz Gegenpropaganda Fetullah Gülens die Staatspräsidentschaftswahlen gewann, war Anlass für in- und ausländische Kommentare, die der Gülen-Bewegung eine Niederlage bescheinigten – diese Ansicht wurde bis zum 15. Juli 2016 weitegehend vertreten.
Mit dem Putschversuch bekam Erdoğan eine ungeheure Chance zur endgültigen Zerschlagung der Gülen-Bewegung, die offensichtlich die Absicht hatte, ihn noch in der Putschnacht zu töten. Das AKP-Regime schlug mit voller Wucht zurück. Binnen weniger Tage wurden Tausende verhaftet und Zehntausende aus dem Staatsdienst entfernt. Es begann eine Säuberungsaktion, die mit aller Sicherheit Monate zuvor geplant war und dazu führte, dass ein großer Teil der Gülenisten aus den »Vene und Arterien des Staates« entfernt wurden. Nun bekamen die Gülenisten die Auswirkungen des von ihnen selbst installierten Feindstrafrechtes am eigenen Leibe zu spüren: die Willkürjustiz traf sie mit der vollen Härte.
Erdoğan wandelte sich vom »Saulus zum Paulus«. Öffentlich gab er Fehler zu und bat »Allah und die türkische Nation um Vergebung«, weil er sich von den Gülenisten derart »täuschen« ließ. Inzwischen haben sich die Säuberungsaktionen zu einer regelrechten Hexenjagd verwandelt. Sogar bekennende Marxisten werden nun als »FETÖ-Unterstützer« verhaftet. Für Erdoğan und seine AKP ist die »Terrororganisation Fetullah Gülen« zu einem wichtigen Machterhaltungsinstrument geworden, so dass durchaus gesagt werden kann, dass die AKP »FETÖ« hätte erfinden müssen, gäbe es sie nicht. Letztendlich kann Erdoğan die gesamte Schuld für die verfehlte Politik auf die Gülen-Bewegung schieben und versuchen, seine Mittäterschaft an den Verbrechen vergessen zu machen. Und obwohl Erdoğan öffentlichkeitswirksam von den USA die Auslieferung von Fetullah Gülen und von der BRD die der dort ansässigen Gülenisten fordert, ist es zu offensichtlich, dass er kein großes Interesse an einer Auslieferung hat. Dem AKP-Regime ist es dienlicher, wenn die Gülen-Bewegung im Ausland geschwächt weiter existiert und jedes Mal, wenn unpopuläre Maßnahmen durchgesetzt werden sollen, ein quasi »Antichrist« aus dem Hut gezaubert werden kann. Zur Rechtfertigung der Verlängerung des Ausnahmezustandes ist die Gülen-Bewegung ein probates Feindbild.
BRD als Logistikzentrum der Bewegung
Wie die Bundestagsabgeordnete Ulla Jelpke mitteilt, wurde Erdoğan gerade in Sachen »Auslieferung der Gülenisten« beim Lügen ertappt. [6] Obwohl Erdoğan großspurige verkündet habe, dass »Deutschland, Frankreich, Belgien und Holland die gesuchten Terroristen nicht ausliefern«, habe die Bundesregierung nach einer kleinen Anfrage der Linksfraktion klargestellt, dass »nach dem Putschversuch weder Fahndungs- noch Auslieferungsersuchen zu diesem Tatversuch eingegangen« seien, so Jelpke. Das bestätigt die Tatsache, dass Erdoğan die Gülen-Bewegung weiter als Feindbild nutzen möchte.
Einen Nutzen hat die Gülen-Bewegung auch für die imperialistischen Mächte – im besonderen Maße auch für die BRD. Seit fast 25 Jahren ist die Bewegung in der BRD tätig. Sie konnte innerhalb dieser Zeit ein großes Netzwerk aufbauen, so dass sich in der BRD drei Standbeine ausmachen lassen: Ein Bildungsnetzwerk mit dem Ziel der Gewinnung neuer Anhänger und Kader zur Schaffung einer »goldenen Generation« für die zukünftige Weltgeltung der Türkei als islamische Führungsmacht; Medien zur Verbreitung der Ideen der Gemeinde und politischen Beeinflussung der türkeistämmigen Migrant*innen, aber auch der bundesdeutschen Öffentlichkeit im Sinne der türkisch-nationalistischen Politik und schließlich Lobbyvereine, die eine Verankerung und damit Absicherung der Bewegung im akademischen und politischen Milieu betreiben.
Während Gülen-Organisationen in der BRD früher versuchten, als jeweils reicht eigenständige Vereinigungen den Eindruck völliger organisatorischer Unabhängigkeit zu erwecken und selbst eine Verbindung zu Fetullah Gülen verschwiegen, sind sie nach dem Putschversuch in die Offensive gegangen und stellen sich mit Hilfe der unkritischen Behandlung durch die öffentlich-rechtlichen Fernsehsender als »Opfer des Diktators Erdoğan« dar. Es sieht sehr danach aus, dass Entscheidungsträger in der Regierung und den Medien dem Vorschlag Günter Seufert von der regierungsnahen »Stiftung Wissenschaft und Politik« (SP) zu folgen: [7] Obwohl Seufert die Gülen-Bewegung als »eine hierarchisch strukturierte religiöse Gemeinde [mit einer »dem Militär ähnlichen Disziplin«] (...) die einen ausgeprägten politischen Gestaltungswillen hat« bezeichnet, empfiehlt er den »Entscheidungsträgern in Deutschland (...) nicht die Zusammenarbeit zu verweigern« und »in Deutschland für die Zusammenarbeit mit Initiativen der Gülen-Bewegung i. d. Regel offen« zu sein. Seufert begründet seine Empfehlung damit, »dass die Bewegung in der Diaspora – anders als in der Türkei – kein signifikanter politischer Faktor ist und werden kann«. Insofern könne die Gülen-Bewegung keine »Gefahr in Europa« sein – nun für die Herrschenden sicher nicht.
So kann die Bewegung heute weiterhin mit offener Unterstützung staatlicher Stellen in der BRD Schulen und Kindergärten eröffnen, »Integrationspreise« erhalten und ungehindert ihr Netzwerk ausbauen. Dabei wird sie von Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens gegen berechtigte Kritik, die inzwischen auch von einigen bürgerlichen Medien geäußert wird, verteidigt. Übrigens, die Gülen-Bewegung hat derzeit kein großes Interesse daran, in der BRD »ein signifikanter politischer Faktor« zu werden. Der Bewegung geht es in erster Linie darum, das weltweite Netzwerk von der BRD aus logistisch zu unterstützen. Dafür nehmen die Gülenisten es hin – sowohl in der BRD als auch in der USA – unter strenger Kontrolle der Geheimdienste gestellt zu werden.
Welche Rolle spielt die Bewegung überhaupt?
Die unkritische Behandlung der Gülen-Bewegung durch die bürgerlichen Medien oder Persönlichkeiten in der BRD hat keineswegs etwas mit politischer Naivität zu tun. Im Gegenteil, gerade der militärisch-industrielle Komplex der BRD hatte die »Dienste« der Bewegung gerne angenommen, wenn es um Rüstungsexporte und militärische Zusammenarbeit ging. Jetzt, wo die Bewegung weder in der türkischen Politik, noch in der Wirtschaft über Einfluss verfügt, wird sie nicht benötigt – aber weiterhin als Ersatzkraft unter Kontrolle gehalten. Immerhin hat die Gülen-Bewegung seit Jahrzehnten unter Beweis gestellt, wie zuverlässig sie die Interessen imperialistischen Mächte verteidigte und als schlagkräftige Vorhut westlicher Geheimdienste tätig war.
Die Tatsache, dass diese faschistoide Bewegung als Vorfeldorganisation der westlichen Geheimdienste, insbesondere der CIA seit langem tätig ist, wurde mit zahlreichen Veröffentlichungen nachgewiesen. Sei es durch Wikileaks-Veröffentlichungen, sei es durch die vielen Veröffentlichungen der Whistleblowerin und ehemalige FBI-Mitarbeiterin Sibel Edmonds [8] ist es bekannt, dass die Gülen-Bewegung von der CIA zur Destabilisierung Russlands und Eindämmung des chinesischen Einflusses in Zentralasien eingesetzt wurde. Edmonds schrieb schon 2008, dass die Gülen-Schulen »den CIA- und US-State-Department-Mitarbeitern als Operationsbasen für geheime Operationen in den jeweiligen Regionen« dienten. Auch der ehemalige Regional-Chef des türkischen Geheimdienstes MIT, Osman N. Gündeş wies in seinem Buch darauf hin, dass die Gülen-Bewegung »alleine in Kirgisistan und Usbekistan 130 CIA-Agenten, die mit Diplomatenpässen ausgestattet waren, untergebracht« hat. [9] Gündeş war einer derjenigen türkischen Geheimdienstler, der in den 1990er-Jahren die Ausbreitung der Gülen-Schulen in Aserbaidschan, Georgien, Kasachstan, Kirgisistan, Russland, Turkmenistan und Usbekistan auf Anordnung des damaligen Staatspräsidenten Süleyman Demirel begleitet hatte. Demirel selbst hatte seine Kollegen in den ehem. Sowjetrepubliken persönlich angeschrieben und um Unterstützung für die Schulen der Gülen-Bewegung gebeten. Innerhalb einiger Jahren breiteten ich die Gülen-Schulen, somit die Operationsbasen der CIA aus – bis 2002 der Direktor des russischen Inlandsgeheimdienstes FSB, Nikolai Patrushev eingriff und nach und nach sämtliche dieser Schulen sowie ab Frühjahr 2008 auch alle weiteren Aktivitäten der »Nurcu-Bruderschaft« in Russland verboten wurden. Die Turkstaaten folgten diesem Beispiel und haben die Gülen-Schulen wegen »destruktiver Aktivitäten« verboten.
Auch im Nahen Osten und in Afrika war die Gülen-Bewegung für westliche Geheimdienste tätig. Insbesondere im Nordirak hat die Gülen-Bewegung als Wegbereiter für das türkische Kapital fungiert und mit über 30 Schulen, Fernsehsendern und zahlreichen Unternehmen ihren Einfluss innerhalb der Kurdischen Autonomieregion in Nordirak erweitert. Während die Vertreter der Gülen-Bewegung sich in Südkurdistan jahrelang wie »Botschafter der Türkei« verhielten, haben andere Gülenisten in verschiedenen afrikanischen Staaten die Eröffnung von Auslandsvertretungen der Türkei organisiert. Sämtliche Aktivitäten folgten dem gleichen Schema: Eröffnung von Schulen, die vor allem Kinder von Regierungsmitglieder unterrichten, Investitionsgespräche mit der Gülen-nahen Unternehmensverband TUSKON, Einsatz von CIA-Mitarbeitern als Englischlehrer, Organisierung von Türkisch-Olympiaden etc. Wie wichtig Fetullah Gülen und seine Organisation der CIA war, belegt die Tatsache, dass hochrangige CIA-Mitarbeiter gegen die Widerstände des FBI und des Heimatschutzministeriums der USA für Gülen eine Green Card organisieren konnten.
Inzwischen haben viele Länder erkannt, dass die Gülen-Bewegung eine CIA-Vorfeldorganisation ist und ihre nationalen Sicherheitsinteressen bedroht. Deshalb werden ihre Schulen geschlossen und ihre Aktivitäten verboten. Auch Erdoğan ist sich bewusst, dass die ehemaligen Koalitionäre nun seine Hauptfeinde geworden sind. Dazu hat aber Erdoğan vieles selbst beitragen: Erdoğan setzte auf »falsche Pferde« - so z.B. als er mit seiner Israelkritischen Rhetorik zu weit ging. Erdoğan weigerte die vollständige Unterwerfung und die Abgabe der staatlichen Souveränität. Erdoğan drohte damit, chinesischen Firmen Rüstungsaufträge zu vergeben und machte Avancen für die Mitgliedschaft in der »Schanghaier Organisation für Zusammenarbeit« (SOZ). Die Türkei ist das einzige NATO-Mitglied, das gleichzeitig eine Dialogpartnerschaft mit der SOZ unterhält. Und schließlich das außenpolitische Fiasko der Türkei. Die verblendete Wahrnehmung der Machtverhältnisse und der Realitäten in der Region durch das AKP-Regime, missfällt dem Westen. Sowohl die USA als auch die BRD haben deutlich gemacht, dass sie eine »AKP ohne Erdoğan« wollen. Die Gülen-Bewegung dient weiterhin für dieses Ziel als Handlanger.
Günter Seufert mag rechthaben, wenn er feststellt, dass die Gülen-Bewegung für Europa »keine Gefahr darstellt«. Eine Gefahr stellt jedoch die Gülen-Bewegung weiterhin für türkeistämmige und kurdische Oppositionelle in Europa. Es ist bekannt, dass neben den rund 6.000 türkischen Geheimdienstlern, auch ehemalige Kommandeure der Spezialkräfte der türkischen Polizei, die als Mörder und Folterer bekannt sind, in der BRD Asyl beantragt haben. Es ist höchst suspekt, dass gerade diese ehemaligen Offiziere zeitgleich den Kontakt zu kurdischen und türkischen kriminellen Kreisen suchen. Vertreter*innen von kurdischen Organisationen in Europa haben kürzlich die Öffentlichkeit davon unterrichtet, dass Mordkommandos in die BRD geschickt wurden und Aufklärung verlangt. Aufgrund der Tatsache, dass die Gülen-Bewegung in zahlreiche extralegale Hinrichtungen verwickelt ist, ist es nicht von der Hand zu weisen, dass zu gegebener Zeit gegen türkische oder kurdische Oppositionelle in Europa Anschläge verübt werden können. Das alleine zeigt die Gefährlichkeit dieser faschistoiden Vorfeldorganisation westlicher Geheimdienste.
***
[1] Siehe: Murat Çakır, »Die Pseudodemokraten – Türkische Lobbyisten, Islamisten, Rechtsradikale und ihr Wirken in der Bundesrepublik«, GDF-Publikationen, Düsseldorf 2000 (vergriffen). Siehe auch: http://www.kozmopolit.com/haziran03/Dosya/Dosya.html sowie die Hintergrundberichte von Nick Brauns: http://www.nikolaus-brauns.de/html/gulen.html.
[2] Siehe auch: Errol Babacan, »Der fingierte Putsch – Gottes Segen«, in: Infobrief Türkei, http://infobrief-tuerkei.blogspot.de/2016/07/der-fingierte-putsch-gottes-segen.html.
[3] Die Gülen-Bewegung wird auch »Hizmet«-Bewegung genannt. »Hizmet« bedeutet auf Deutsch »Dienst«. Damit wird suggeriert, dass es ein »Dienst« für die Religion, für Gott, aber gleichzeitig ein »Dienst« zugunsten der Muslime und insbesondere für den Aufbau einer türkisch-muslimischen Elite ist.
[4] Siehe auch: Murat Çakır, »Normalzustand in der ›demokratischen‹ Türkei: Willkürjustiz«, in: http://infobrief-tuerkei.blogspot.de/2012/01/normalzustand-in-der-demokratischen.html.
[5] Muhsin Yazıcıoğlu, war BBP-Vorsitzender und starb am 25. März 2009 bei einem Hubschrauberabsturz. Die Absturzursache ist immer noch ungeklärt, so dass BBP-Anhänger von einem gezielten Mord sprechen.
[6] Siehe: Ulla Jelpke, »Erdogan beim Lügen ertappt«, in: junge Welt vom 1. Oktober 2016.
[7] Günter Seufert, »Überdehnt sich die Bewegung von Fetullah Gülen? Eine türkische Religionsgemeinde als nationaler und internationaler Akteur«, SWP-Studie, Berlin Dezember 2013.
[8] Siehe: https://de.wikipedia.org/wiki/Sibel_Edmonds und http://www.boilingfrogspost.com/category/sibel-edmonds/.
[9] Osman Nuri Gündeş, »İhtilallerin ve Anarşinin Yakın Tanığı« (Der nahe Zeuge der Revolutionen und der Anarchie), Istanbul 2010, ISBN 6058819207.